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Faruk Sen
Noch draußen vor der Tür - aber ist sie
offen?
Der lange und schwierige Weg der Türkei
nach Europa
Die Debatte um einen möglichen EU-Beitritt
der Türkei ist nicht vom Himmel gefallen. Sie hat auch viel
tiefere Wurzeln als das Assoziierungsabkommen von 1961. Die
Beziehungen zwischen Europa und der Türkei sowie der
gegenseitige kulturelle Austausch sind seit Jahrhunderten
ausgeprägt. Während das europäische Geistesleben
nach der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 unzählige
Impulse aus der osmanischen Kultur empfing, bewegt sich seit dem
19. Jahrhundert die Türkei kontinuierlich auf Europa zu, indem
sie westliche Gesellschaftsentwürfe zum Leitbild der
Modernisierung von Staat und Wirtschaft machte.
Der Einfluss europäischen Denkens auf
die Türkei wird von den Europäern vielfach
unterschätzt. Tatsächlich befand sich die Türkei im
ganzen 20. Jahrhundert auf dem Weg nach Europa. Die staatlichen
Strukturen in der Türkei - parlamentarisch-repräsentative
Demokratie, Rechtssystem, Verwaltung - sind im Gegensatz zu allen
anderen muslimisch geprägten Staaten weitgehend von
europäischen Vorbildern durchdrungen. Damit stellte und stellt
sich für das Land zwangsläufig die Frage nach einem
Beitritt zur Europäischen Union - und dies nicht erst seit
Jahren, sondern seit Jahrzehnten.
Dies bedeutet nicht, dass die Türkei
schon in Europa angekommen wäre. Mit der Entscheidung des
EU-Gipfels von Helsinki vom Dezember 1999, die Türkei in den
Kreis der Beitrittskandidaten zur Europäischen Union
aufzunehmen, haben die europäischen Staaten aber dokumentiert,
dass sie den Weg der Türkei nach Europa begrüßen.
Damit ist die Frage der Zugehörigkeit der Türkei zu
Europa auch für die europäischen Staaten eigentlich
beantwortet. Damit kann die politische Debatte um den Beitritt der
Türkei zur Europäischen Union eine zielorientierte und
pragmatische Richtung bekommen, die eines Tages hoffentlich zu
einem größeren, wirtschaftlich und kulturell reicheren
Europa führen könnte.
Die türkischen Regierungen unter Ecevit
und später Erdogan haben in den letzten Jahren fundamentale
Reformen im Bereich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf den Weg
gebracht, die die Türkei tatsächlich nahe an die Schwelle
zur EU-Reife geführt haben. Nach dem im Dezember gescheiterten
EU-Verfassungsgipfel in Brüssel haben nun ganz andere Bedenken
Nahrung erhalten, und diese betreffen eben nicht in erster Linie
die Türkei, sondern die Union selbst: Vielleicht ist die EU
der 25 bereits ein überdehntes, handlungsunfähiges
Gebilde, das seine geographische Ausdehnung auf Kosten der
Vertiefung der Integration betrieben hat?
Tatsächlich wären die Folgen eines
türkischen Beitritts aber ziemlich überschaubar. Das am
häufigsten vorgebrachte Argument ist das der Kosten. Alle
finanziellen Probleme des Beitritts neuer Mitglieder zur Union sind
primär Probleme der gemeinsamen Agrarpolitik - schlicht weil
sie den mit weitem Abstand größten Posten im
Unionshaushalt beansprucht. Alle Modellrechnungen zu dem Kosten des
türkischen Beitritts stehen also unter der Prämisse, dass
am bestehenden Preisstützungssystem, wie es ab Mitte 2004
gilt, nicht weiter gerüttelt wird. Sollte es jedoch - was zu
erwarten ist - zu weiteren Reformen kommen, so würde auch die
Mitgliedschaft der Türkei eher günstiger als heute
prognostiziert. Das Zentrum für Türkeistudien (ZfT) hat
in einer Modellrechnung ermittelt, wie hoch die Nettotransfers in
die Türkei bei einem hypothetischen Beitritt im Jahr 2003
gewesen wären, also vor den ab 2004 wirksam werdenden,
zaghaften Reformen. Die Türkei hätte 6,1 Milliarden Euro
Netto-transfers von der EU erhalten - und damit hinter Spanien mit
7,4 Milliarden gelegen.
Auch wird die Freizügigkeit der
Arbeitskräfte oft als Risiko eines türkischen Beitritts
verstanden - zu Unrecht. Im Falle einer Vollmitgliedschaft der
Türkei befürchten die EU-Staaten, die Freizügigkeit
könnte ein weiteres Ansteigen der Arbeitslosenzahlen in Europa
nach sich ziehen. Tatsächlich - und die Türkei hat ihre
Bereitschaft bereits signalisiert - würden aber lange
Übergangsfristen vereinbart. Aber ob die überhaupt
zwingend notwendig wären, ist fraglich. Bei einer
Arbeitslosenquote von circa 24 Prozent unter den türkischen
Erwerbsfähigen in der Bundesrepublik besteht kaum Spielraum
für weitere Arbeitsmigration aus der Türkei. Wer sich im
europäischen Binnenmarkt aber frei niederlassen will, muss
innerhalb von drei Monaten einen Arbeitsplatz
nachweisen.
Auch die Vertretung der Türkei in den
europäischen Institutionen würde alles andere als einen
politischen Erdrutsch bedeuten. Zur Zeit gibt es im Parlament acht
Fraktionen mit 626 Europaabgeordneten. Im Falle einer
Vollmitgliedschaft wäre die Türkei nach dem momentan
geltenden Schlüssel, aufgrund ihrer 69 Millionen Einwohner,
durch 74 Abgeordnete im Europäischen Parlament vertreten. Dies
würde das politische Koordinatensystem so wenig verschieben
wie die zusätzlichen 29 Stimmenanteile der Türkei zu den
345 Stimmen im Rat der EU der 25.
Der mittelfristige Beitritt der Türkei
zur EU wird von zwei Dritteln der Deutschen unterstützt. Nach
einer repräsentativen Befragung des ZfT vom Herbst 2003 unter
1.000 Deutschen machen 58 Prozent die Aufnahme der Türkei aber
von der Erfüllung von Voraussetzungen abhängig. Für
eine kurzfristige Aufnahme sprechen sich nur acht Prozent aus. Ein
Drittel der Deutschen ist auch dann gegen die Aufnahme der
Türkei, wenn sie die Voraussetzungen für einen Beitritt
erfüllt. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen von 85
Prozent möchte die Diskussion über den EU-Beitritt der
Türkei nicht zum Wahlkampfthema gemacht sehen. Allerdings
relativiert sich diese positive Haltung der Deutschen zum
EU-Beitritt der Türkei, stellt man das Modell der
Partnerschaft mit besonderen Privilegien, wie es seit Kurzem von
der CDU vertreten wird, als Alternative daneben. Immerhin 57
Prozent bevorzugen auf Nachfrage zu beiden Optionen die
Partnerschaft als den besseren Weg.
Argumente, die aus der Sicht der Deutschen
für einen Beitritt sprechen, sind an erster Stelle mit 61
Prozent eine verbesserte Integration der Türken in Europa -
eine bemerkenswerte Angabe; für 53 Prozent ist die
geographische Zugehörigkeit der Türkei ein Argument
für die Aufnahme, und 51 Prozent halten die Aufnahme der
Türkei aus militärisch-strategischen Gründen
für wichtig.
Das Argument, das nach Ansicht der Deutschen
am stärksten gegen den Beitritt spricht, ist die von zwei
Dritteln als mangelhaft eingestufte Menschenrechtslage und
Demokratisierung. 60 Prozent sind der Meinung, die innenpolitische
Lage der Türkei sei aufgrund der Gefahr von Extremismus und
Fundamentalismus zu unsicher, fast ebenso viele sind der Ansicht,
der Einfluss des Militärs sei zu hoch. Somit beziehen sich die
Contra-Argumente in erster Linie auf die innenpolitische Situation
der Türkei. Allerdings sehen auch 52 Prozent die Region als zu
unsicher an. Darüber hinaus befürchten die Hälfte
der Befragten wirtschaftliche Nachteile, 50 Prozent haben Angst vor
einem Zustrom Arbeitssuchender nach Deutschland und 45 Prozent
erwarten wirtschaftliche Nachteile durch zu hohe Kosten, die der
Beitritt der Türkei verursachen würde.
Generell stößt die Erweiterung der
EU auf eine breite Zustimmung unter den Deutschen, eine
Beschränkung der EU auf die Kernstaaten befürwortet
lediglich ein Drittel. Was ist aber nun das schlagende Argument
für den Beitritt der Türkei aus europäischer Sicht?
Es liegt in den aktuellen Verwerfungen im internationalen System.
Es geht beim EU-Beitritt der Türkei um eine nicht weniger
historische Entscheidung als die Überwindung der
Ost-West-Teilung Europas. Die Konflikte des 21. Jahrhunderts, die
viel beschworene Rivalität zwischen Kulturen und Religionen,
finden ihr potenzielles Schlachtfeld auch auf dem europäischen
Kontinent. Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien könnten erste
Vorboten gewesen sein. Die Einbeziehung der muslimisch
geprägten Türkei in den europäischen
Einigungsprozess würden weitere solcher Auseinandersetzungen
im Keim ersticken, und dies bleibt das Hauptargument für den
EU-Beitritt der Türkei.
Prof. Dr. Faruk Sen ist Direktor der Stiftung
Zentrum für Türkeistudien in Essen.
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