Michael Hirschfeld
Als "politischer Prälat" zwischen alle
Fronten geraten
Das Leben des Zentrumspolitikers Carl Ulitzka in
Oberschlesien
Carl Ulitzka? Nie gehört! Oberschlesien?
Damit beschäftigen sich doch nur Revanchisten! Reaktionen, die
manchem Zeitgenossen durch den Kopf gehen mögen, wenn er
dieses Buch in Händen hält. Die Lektüre belehrt bald
eines Besseren. Am Fall des Priesters und Zentrumspolitikers Carl
Ulitzka wird die zumeist unbekannte Welt von Politik, Kirche und
Gesellschaft Oberschlesiens in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts erschlossen.
Nach einer Einleitung zum gegenwärtigen
Forschungsstand schildert Hitze chronologisch die Anfänge
seines Protagonisten: Jugend in der oberschlesischen Provinz,
Theologiestudium in Breslau und Graz, Diasporapfarrer in Bernau.
Hier hatte Ulitzka seine erste Bewährungsprobe zu bestehen,
indem er den sozial deklassierten katholischen Zuwanderern eine
große Kirche sowie ein kirchliches Vereinsleben
schuf.
Den Schwerpunkt bildet das mit 900 Seiten
umfangreichste dritte Kapitel, das sich der politischen
Tätigkeit Ulitzkas als Vorsitzender der oberschlesischen
Zentrumspartei und als Reichstagsabgeordneter in der Weimarer
Republik widmet. Hier wird deutlich, dass es sich bei der 1999 an
der Universität Wuppertal als Dissertation angenommenen Studie
um weitaus mehr als um eine herkömmliche Biographie handelt;
sie ist ein Kompendium der oberschlesischen Geschichte.
Nach Oberschlesien war Ulitzka bereits 1910
zurückgekehrt, um eine Pfarrei in Ratibor zu übernehmen.
In den Kapiteln IV bis VI schildert der Verfasser,
Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung, die
Lebensabschnitte in der NS-Zeit und nach 1945 bis zum Tod, der
Ulitzka 1953 als Hausgeistlichen eines Ost-Berliner Krankenhauses
ereilte. Ein vorzüglich ausgestatteter Anhang rundet den Band
ab.
Ebenso wie durch ihren Umfang beeindruckt die
Studie durch die Intention des Verfassers, Personen- und
Strukturgeschichte zu einer Synthese zu verbinden. Der Leser
erfährt Ulitzka als einfallsreich und zupackend, eloquent und
selbstbewusst, aber auch voller Eitelkeit. Was diesen
"Zentrumsprälaten" so interessant macht, ist seine
Sensibilität für die Probleme der Zeit, gepaart mit
"Einsatzwillen und vor allem Bekennermut": So trat er vor dem
Ersten Weltkrieg in die Zentrumspartei ein, als ihr gerade die
polnischen Wähler in Scharen davon liefen, um ihre politische
Zukunft bei den polnischen Nationalisten zu suchen. 1918
begrüßte er die Ausrufung der Republik und gelangte an
die Spitze der nunmehr als "Katholische Volkspartei" firmierenden
oberschlesischen Sektion des alten schlesischen
Zentrums.
Während der oberschlesischen
Aufstände (1919-1921) und im Vorfeld der Volksabstimmung 1921
wurde er "durch die Zeitumstände förmlich aus dem
Hintergrund auf die große oberschlesische Bühne
geworfen". In seiner neuen Rolle als deutscher Gegenspieler des
polnischen Patrioten Wojciech Korfanty war er unweigerlich
Zielscheibe des Hasses polnischer Oberschlesier. Andererseits lag
ihm als Seelsorger an einem friedlichen Zusammenleben von Deutschen
und Polen besonders, da er selbst fließend polnisch sprach und
dies auch in der Pastorale zu jeder Zeit kräftig einsetzte.
Folglich wurde er von deutschnationalen Kreisen als Polenfreund
angegriffen.
Zwischen beide Fronten dieses Hexenkessels
geriet der "politische Prälat" insbesondere durch seine
autonomistische Linie. Denn allein in der Eigenständigkeit
Oberschlesiens - gleichwohl innerhalb des Deutschen Reiches - sah
Ulitzka die Garantie für ein friedliches Zusammenleben von
Deutschen und Polen in der Region, - ein Plan, der sich nach der
Teilung nur auf deutscher Seite in einer eigenständigen
preußischen Provinz Oberschlesien realisieren
ließ.
Zudem traf ihn die wachsende Opposition des
katholischen Adels gegen seine Politik eines sozialen und
republikanischen Oberschlesiens. Obgleich Ehrenbürger der
Stadt Ratibor und kirchlicherseits durch Ernennung zum
Päpstlichen Hausprälaten sowie zum Ehrendomherrn in
Breslau geehrt, stand Ulitzka angesichts beträchtlich
zurückgehender Zentrumsstimmen am Ende der Weimarer Zeit doch
beschädigt da. Der erzwungene Rückzug in die politische
Bedeutungslosigkeit kulminierte schließlich in der Ausweisung
aus seiner Pfarrei und aus Schlesien 1939 und der Einlieferung in
das KZ Dachau nach dem 20. Juli 1944.
Auch auf strukturgeschichtlicher Ebene
erfährt man viel Neues über die Verhältnisse in
Oberschlesien zwischen 1918 und 1933: Ob es die Relativierung der
These von der Zentrumshochburg Oberschlesien ist, die in der
bisherigen Forschung kaum wahrgenommene Bedeutung Ulitzkas als
Kompromisskandidat für den Parteivorsitz im Zentrum auf
Reichsebene 1928 oder die immense Relevanz der Oberschlesienfrage
für die deutsche Innen- und Außenpolitik in der Weimarer
Republik: Hitze versteht es kenntnisreich, internationale wie
nationale Konstellationen mit der Geschichte Oberschlesiens zu
verknüpfen und umschifft damit geschickt die Gefahr, im
"Elfenbeinturm" der Regionalgeschichte steckenzubleiben.
Ein weiteres Ergebnis der Kärrnerarbeit
des Autors ist noch hervorzuheben: Obwohl Ulitzka und das Zentrum
zwischen den Weltkriegen für eine Revision der Teilung
Oberschlesiens kämpften, unterschieden sie sich mehr als
graduell vom Revanchismus der nationalen und völkischen
Rechten. Das macht Hitze unmissverständlich deutlich und
bricht eine Lanze für die Bewertung aus der Zeit heraus ohne
den moralischen Zeigefinger der Gegenwart. Nicht zuletzt deshalb
ist ihm ein in doppelter Hinsicht "starkes" Buch
gelungen.
Guido Hitze
Carl Ulitzka (1873 - 1953) oder Oberschlesien
zwischen den Weltkriegen.
Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte,
Band 40.
Droste Verlag, Düsseldorf 2002; 1.439
S., 64,- Euro
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