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Alva Gehrmann
Am Tor der Morgenröte
Wie die junge Generation im Baltikum die Zukunft
zur Gegenwart macht
Schwungvoll läuft Silver Meikar die Treppen
zum Plenarsaal herunter, gleichzeitig tippt er schnell etwas in
seinen Laptop, den er mühelos auf dem rechten Arm balanciert.
"Mir ist gerade noch etwas eingefallen", sagt er, lächelt und
klappt seinen Laptop zu. Silver Meikar ist ein groß
gewachsener Mann, er trägt einen schwarzen Kordanzug, dazu
eine schicke Krawatte. 26 ist der Politiker und damit der
jüngste Abgeordnete im estnischen Parlament (Riigikogu).
Souverän führt er durch das
Gebäude: Die Toompea ist eine mittelalterliche Festung in
Tallinn, die im 13. und 14. Jahrhundert vom Deutschen Orden erbaut
wurde. Silver Meikar mag die Würde des Hauses, die knarrenden
Holzfußböden, die Kronleuchter und auch den alten
Plenarsaal.
Meikar ist ein typischer Vertreter der neuen
Generation: Sie sind jung, machen schnell Karriere, wissen genau,
was sie wollen. Seit einem Jahr ist er Mitglied im Parlament, zuvor
hat er an der Universität in Tartu Wirtschaft studiert, sich
in verschiedenen Initiativen engagiert und war zwei Jahre
Geschäftsführer seiner eigenen Internetfirma. Doch das
reichte ihm nicht: "Ich will etwas verändern", sagt er. Meikar
ist Mitglied der Eesti Reformierakond, der Liberalen Partei, seine
Fachgebiete sind Jugend und IT - da kennt Silver Meikar sich aus.
Die schnelle Karriere gelang durch viel Engagement, aber auch weil
die Zeiten sich geändert hatten.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion und damit
die Unabhängigkeit Estlands ist eine Chance für junge
Menschen wie Meikar. 1991 fing alles bei Null an. Die alten Regeln
galten nicht mehr. Also probierte sich die nachfolgende Generation
aus, wurde aktiv, ging ihren eigenen Weg. Mit Erfolg: der
Justizminister ist gerade mal 29 Jahre alt, der Premierminister 38.
Im estnischen Parlament sitzen nicht nur die Jungen. Trotzdem, sagt
man, arbeiten in keinem Kabinett so viele Jungpolitiker. Estland
gilt als das Musterland der neuen EU-Mitglieder. Über 70
Prozent haben ein eigenes Handy, sie können ihre
Parkgebühren per SMS bezahlen, jeder Bürger hat laut
Verfassung das Recht auf freien Zugang zum Internet,
Steuererklärungen werden online abgegeben und mit der ID-Card,
die eine digitale Signatur ermöglicht, bestätigt. Die
ID-Card ersetzt heute schon in vielen Bereichen den estnischen
Personalausweis.
Vorbilder für den IT-Weg waren Finnland
und Schweden. Beide unterstützen den kleinen Nachbarn mit
seinen 1,4 Millionen Einwohnern. Die Esten fühlen sich ohnehin
mehr als Skandinavier, denn als Balten. Nur 80 Kilometer ist
Helsinki von Tallinn entfernt. "Schon zu Sowjetzeiten konnten wir
finnisches Fernsehen empfangen, deshalb wussten wir immer, was in
der Welt passiert", sagt Silver Meikar, der 1991 gerade mal 13
Jahre alt war und kaum noch durch die "alte" Zeit geprägt ist.
Heute setzt er sich für die nächste Generation ein, will
Regionalwahlen ab 16 Jahre einführen. "Je früher die
Jugendlichen lernen, dass sie etwas verändern können,
umso besser. Dann gewöhnen sie sich daran." Aktiv sein, das
ist die Devise. Und sei es nur, eine Initiative gegen das
Fällen der Bäume, im Dorf zu gründen.
Die nächste Generation steht schon in
den Startlöchern: Helen Hallik zum Beispiel. Sie ist 17.
Treffen in der Altstadt, unweit des estnischen
Parlamentsgebäudes Toompea, im "Beer House". Helen Hallik
bestellt sich eine Cola. Alkohol darf sie offiziell noch nicht
trinken, nicht mal ein Bier, denn das ist in Estland erst ab 18
Jahren erlaubt. Helen hat ein Augenbrauen-Piercing, trägt
Jeans und T-Shirt, in der Adidas-Tasche sind ihre Schulunterlagen
verstaut. Ein ganz normaler Teenager, wie überall in Europa.
Bis auf Carhartt-Jeans bekomme sie in Estland alles, sagt sie. Die
17-Jährige ist schon viel herumgekommen, in Europa und der
ganzen Welt. In 25 Länder war sie schon. Thailand, Deutschland
und Frankreich zum Beispiel. "Mich ärgert, dass manche
Franzosen immer noch denken, dass wir ein Teil von Russland sind."
Hoffentlich ändere sich das bald. Ebenso die Vorstellung
mancher Westeuropäer, Estland sei ein zweitklassiges
Land.
Sie ist stolz, eine Estin zu sein. Trotzdem
zieht es sie nach ihrem Schulabschluss in die Ferne. Public
Relations möchte sie studieren - am liebsten in England. Denn
dort soll es die besten Universitäten für das Fach geben.
Durch die EU-Mitgliedschaft wird es für Helen Hallik leichter,
einen Studienplatz zu bekommen. Mit ein Grund, weshalb sie es gut
findet, dass Estland nun Teil der Europäischen Union ist. In
der Schule hat sie nur wenig über die EU gelernt. "Es lagen
ein paar Broschüren aus, mehr aber nicht." Im Internet jedoch
gäbe es viele Websites, auf denen man sich darüber
informieren kann. "Wer interessiert ist, bekommt also auch sein
Wissen." Jeden Tag liest sie den Politikteil der Tageszeitung,
für das Schulfach Sozialwissenschaften braucht sie das. Nur
wenige ihrer Freunde interessieren sich für Politik. Sie
surfen lieber im Internet, um sich über Stars zu informieren -
bis zu sechs Stunden am Tag, oder sie schauen Fernsehen: MTV und
Viva. "Das ist nicht so mein Ding, allein schon wegen der
Musikauswahl. Ich stehe mehr auf Rock, auf Klassiker wie die
Rolling Stones und Led Zeppelin."
Tallinn ist eine schöne Stadt.
Zahlreiche mittelalterliche Gebäude, die liebevoll
hergerichtet sind, finden sich direkt neben modernen Cafés.
Sobald man die Hauptstadt verlässt, sind jedoch noch die
Sowjetspuren zu sehen. Hässliche, verramschte Plattenbauten,
wie es sie wohl in jedem Ostblockland gibt, auch in Lettland und
Litauen.
In Lettland sind heute noch ein Drittel der
Bevölkerung Russen, viele leben dortier als Staatenlose. Die
Balten haben ein gespaltenes Verhältnis zu den ehemaligen
Besatzern. Das vereint die drei Länder, die es ansonsten nicht
mögen, als "die Balten" in einen Topf geworfen zu werden. Jede
Nation hat ihre eigene Sprache, und kaum ein Lette, Este und
Litauer lernt die Sprache des anderen. Man unterhält sich auf
Englisch. Russisch wäre auch möglich, doch viele weigern
sich diese Sprache zu sprechen. Mindestens drei Sprachen
fließend spricht die junge Generation, auch Deutsch ist ein
beliebtes Unterrichtsfach.
Stefans Bagienskis unterhält sich neben
Lettisch und Englisch auch auf Polnisch. Vor über 200 Jahren
kam seine Familie von Polen nach Lettland. Der 18-Jährige lebt
in Ventspils, einer lettischen Küstenstadt, und macht gerade
seinen Schulabschluss. Nebenbei arbeitet er als Kameramann bei
"Ventspils televizija", einem Lokalsender. Jede lettische Stadt hat
ihren eigenen Sender.
Kameramann werden, das ist sein Traum.
Deshalb wird sich Stefans Bagienskis nach seinem Schulabschluss auf
der polnischen Filmhochschule in Lodz bewerben. In Lettland gibt es
noch keine. In seiner Freizeit dreht er gerade einen Spielfilm.
Regie führt ein Deutscher, der an der Universität in
Ventspils deutsche Literatur unterrichtet. "Einige Szenen aus dem
Film will ich für meine Filmhochschulbewerbung nutzen",
erzählt Stefans Bagienskis. Das Filmteam hat so gut wie kein
Geld, deshalb wird viel improvisiert. Wie immer. Denn nur wenige
Letten können sich das leisten, was sie wollen und brauchen.
Manches ist auch einfach nicht in greifbarer Nähe: etwa ein
Kamerakran. Also basteln sie sich einen aus Ersatzteilen. Und
tatsächlich, der Kran funktioniert: Ein Schwenk über das
Publikum, die Band spielt einen Song, fertig ist die
Szene.
"Ich mach, was ich will", das ist das
Lebensmotto von Stefans Bagienskis. Vor der EU hat er Angst.
Lettland habe sich gerade erst von einem großen System
befreit, nun befürchtet er, werde das Land von einem neuen
unterdrückt. "Manchmal glaube ich, die Letten sind nur Letten,
wenn sie unterdrückt werden." Heute, wo sie endlich
unabhängig seien, würden viele Letten ins Ausland
starren. "Sie schauen nur nach dem, was neu ist - lernen Englisch
und studieren Wirtschaft -, und vergessen dabei ihre
Herkunft."
Wirtschaft will auch Paulius Matuleviscius
studieren, wenn er seinen Schulabschluss in der Tasche hat. Der
15-Jährige lebt in Vilnius, der litauischen Hauptstadt. Er
wisse zwar noch nicht genau, in welchem Job er arbeiten werde, aber
mit Betriebswirtschaft habe er später bestimmt gute Chancen
auf dem Arbeitsmarkt - in Litauen ebenso wie in ganz Europa. Sein
Englisch ist sehr gut, bereits ab der ersten Klasse wird die
Sprache unterrichtet. Er lernt auch Russisch, doch das spricht
Paulius Matuleviscius nicht gerne. Überhaupt mag er die Russen
nicht. Obwohl in Litauen gerade mal sechs Prozent der
Bevölkerung Russen sind, habe er mit denen nur schlechte
Erfahrungen gemacht. "In der Schule sind sie es, die uns die Handys
und das Geld stehlen."
Paulius Matuleviscius lächelt verlegen,
schaut seine Freundin an, die direkt neben ihm im Café sitzt.
"Wir haben uns im Chatroom kennen gelernt", erzählt er. Beide
surfen und chatten gerne im Internet. Doch sie hocken nicht nur vor
ihren Computern, manchmal spazieren sie durch die Stadt. Er findet
Vilnius schön, die litauische Hauptstadt ist berühmt
für ihre zahlreichen Kirchen. Besonders gläubig ist er
trotzdem nicht. "Ich finde die Institution Kirche nutzlos." Da ist
er eine Ausnahme: denn die meisten Litauer sind gläubige
Katholiken. Auch die Jungen. So sieht man immer wieder Jugendliche
durch die Straßen laufen, die gerade noch angeregt über
ihre Mathe-Klausur oder Eminem plaudern und dann plötzlich
innehalten: etwa am "Tor der Morgenröte". Hier steht ein
berühmtes Gnadenbild der heiligen Jungfrau Maria. Sie
bekreuzigen sich, machen einen Knicks, dann plaudern sie
weiter.
In Lettland und Estland wäre das
undenkbar. Die beiden Länder sind eher protestantisch
geprägt, feiern aber ebenso gerne Mittsommernacht, ein Fest
mit heidnischen Wurzeln. Dafür sind die Menschen dort
abergläubisch. Selbst die sonst so hightech-verliebten Esten
halten sich an die zum Teil seltsamen Regeln. So darf man in der
Wohnung nicht pfeifen, weil sonst das Haus abbrennt. Wer sein
T-Shirt falsch herum anzieht, der läuft Gefahr, kurz darauf
verprügelt zu werden.
Trotz des Neuanfangs gibt es also in den drei
Ländern auch alte Regeln und Traditionen, die erhalten
bleiben. Die jungen Letten, Litauer und Esten picken sich einfach
das heraus, was ihnen gefällt. Mit der Mitgliedschaft in der
Europäischen Union erhöhen sich ihre
Auswahlmöglichkeiten.
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