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Von Bert Schulz
Der Mahner liest die Leviten
Die letzte "Berliner Rede" von Johannes Rau war
eine Standpauke
Es wurde kein leiser Abschied: Bundespräsident Johannes Rau
nutzte seine wohl letzte große Rede für eine harsche
Kritik an den Eliten der Republik. Unter dem Titel "Vertrauen in
Deutschland - eine Ermutigung" prangerte der Präsident in
seiner "Berliner Rede" am 12. Mai Egoismus, Gier und
Verantwortungslosigkeit in Teilen der Politik, der Wirtschaft und
der Medien an. Die dadurch hervorgerufene Vertrauenskrise und die
"allgegenwärtige" Verunsicherung in der Gesellschaft sei
"lebensgefährlich", so Rau vor 300 geladenen Gästen im
Schloss Bellevue, elf Tage vor der Wahl seines Nachfolgers.
Am wahrscheinlichen Ende seiner Karriere als Berufspolitiker
erhob Rau schwere Vorwürfe gegen Regierung und Opposition. Es
sei verantwortungslos, sich gegenseitig zu blockieren, wenn
Vorschläge nicht aus inhaltlichen, sondern parteipolitischen
Gründen abgelehnt würden. Zwar gehe es in der Politik um
Macht; sie müsse aber in erster Linie ein Streit um Ziele und
um die besten Lösungen sein. Die Bürger hätten
zunehmend das Gefühl, dass sich die Politiker nicht mehr
für sie einsetzen würden.
Der Präsident nannte - anders als von ihm gewohnt - in der
50-minütigen, kaum von Beifall unterbrochenen Rede
"haarsträubendes Versagen" beim Namen und sprach von
"peinlichen Pannen um die Lkw-Maut" und dem "unendlichen Gezerre um
die Einführung des Dosenpfands", das seit 13 Jahren
beschlossene Sache gewesen sei. Raus düsteres Resümee:
"Noch nie hatten so wenig Menschen in Deutschland Vertrauen in die
Politik einer Regierung - und noch nie haben gleichzeitig so wenige
geglaubt, die Opposition könne es besser." Sein Vorschlag: Die
Politik müsse Probleme wieder lösen. Sie "muss wieder
zeigen, dass sie etwas für die Menschen bewirken kann".
Zukunftsentwürfe seien vonnöten.
Rau tadelte in scharfer Form, dass "einige, die in
wirtschaftlicher oder öffentlicher Verantwortung stehen",
ungeniert in die eigene Tasche wirtschaften würden - eine
unverhohlene Anspielung auf den Mannesmann-Prozess um hoch
ausgefallene Abfindungen von Top-Managern. Den Medien warf er vor,
bisweilen eine "fatale Lust an Schwarzmalerei und klischeehafter
Übertreibung" zu kultivieren - so würde die Entfremdung
der Bürger von Politik und Staat gefördert. Der Blick auf
die Quote und Auflage dürfe die Grundregeln journalistischer
Arbeit nicht außer Kraft setzen, so Rau mit Blick auf die
Chefredakteure.
Deutschland würde sich vor allem selber schlecht reden:
"Ich wüsste kein Land, in dem so viele Verantwortliche und
Funktionsträger mit so großer Lust so schlecht, so
negativ über das eigene Land sprechen." Insgesamt sei wenig
Selbstvertrauen zu spüren. Es herrsche Unsicherheit und Angst.
Wer die Zukunft allerdings gestalten will, der brauche Vertrauen in
die Eliten und die Bereitschaft, selbst Verantwortung zu
übernehmen. Es sei höchste Zeit, die Vertrauenskrise zu
überwinden. "Schönreden hilft da nicht. Wir werden uns
anstrengen müssen."
Rau listete die seiner Einschätzung nach positiven
Eigenschaften und Erfahrungen auf, auf die zurückgegriffen
werden könnte. Ein Blick in die Geschichte zeige nicht nur
"furchtbare Verwirrungen", sondern auch, dass politischer Wille und
gesellschaftliche Kraft "Veränderungen zum Guten bewirken"
könnten. Er lobte die Weltoffenheit und Toleranz
gegenüber Minderheiten, das Umweltbewusstsein und den bereits
gemeisterten wirtschaftlichen Strukturwandel, die "wagemutigen"
Unternehmer und die "hervorragend qualifizierten Arbeitnehmer".
Nicht nur die Eliten - alle Bürger seien aufgerufen, sich
einzumischen.
Rau bekam stehende Ovationen für seine letzte "Berliner
Rede" - wohl auch Ausdruck der Anerkennung seiner gesamten Arbeit
als Bundespräsident. Und er bekam Lob für seinen
Auftritt: Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sah sich in
seiner Politik bestätigt. Rau habe wichtige Anstöße
gegeben, ließ er den stellvertretenden Regierungssprecher
ausrichten. Kardinal Karl Lehmann würdigte die Ansprache als
eine souveräne, ohne Häme vorgetragene Kritik "mit Mut
zum Wesentlichen". Und FDP-Chef Guido Westerwelle fand es gut, dass
der Präsident "Politik, Wirtschaft, Medien und Gesellschaft
etwas in das Stammbuch schreibt". Ob es auch gelesen wird, ist eine
offene Frage. Bisher sind die "Berliner Reden" meist zu rasch
verhallt.
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