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Gerd Werle
Für die Sicherheit sind die Amerikaner
wichtiger als Europa
NATO und EU aus lettischer Sicht
Eine "gebürtige" Lettin ist sie zwar nicht, die 1957 in
Bonn als Kind lettischer Emigranten zur Welt gekommene Abgeordnete
Liene Liepina. Die Dolmetscherin heiratete in Schweden einen
lettischen Landsmann und verbrachte 14 Jahre in dem skandinavischen
Land. 1992 zog es sie nach Riga, wo sie der Partei "Neue Zeit"
beitrat. Rund zwölf Monate gehörte sie als Beobachterin
dem Europäischen Parlament an, war Mitglied im
EU-Verfassungskonvent und ist seit Mai eine der 126 neuen
Abgeordneten in Straßburg. Um ihre Wiederwahl im Juni braucht
sie nicht zu fürchten, denn auf der Kandidatenliste ihrer
Partei rangiert sie auf Rang 2.
Kontakte zum Mutterland
Die Kontakte der Emigrantenfamilie zu ihrem Mutterland begannen
nicht erst mit der Auflösung der Sowjetunion. Bereits 1969
hatte der Vater Kontakte geknüpft, vor allem zu
Kirchenkreisen. Als Jugendliche erhielt die heutige Abgeordnete
Gelegenheit, nach Lettland zu reisen. Dort sprach sie zum ersten
Mal Lettisch auch mit Menschen, die nicht wie in Deutschland zu
ihrem engeren Bekanntenkreis gehörten. Allerdings durfte man
nicht zu laut kommunizieren, denn in den Straßen der alten
Hansestadt Riga dominierte Russisch. Beim Einkauf war Lettisch
sogar verboten - ein besonders negativer Auswuchs der damaligen
Russifizierungspolitik. Liene selbst hatte an ihrem Gymnasium in
Münster (Westfalen) kein Russisch gelernt, obwohl ihr
Großvater ihr dazu geraten hatte, die Sprache Tolstois und
Dostojewskis zu erlernen.
In die Politik zog es sie nicht gleich, als sie 1992 in Lettland
ankam. Ihr Vater gründete zwar eine inzwischen aufgelöste
christdemokatische Partei, in der sie sich jedoch nicht engagierte.
Sie arbeitete als Dometscherin und Übersetzerin und lernte auf
diese Weise erst einmal ihr Land kennen. Mittlerweile gehört
sie der Partei "Neue Zeit" an, die den vorherigen
Ministerpräsidenten stellte. Eine Partei, die "zuerst an den
Staat dachte, und dann erst an die eigene Tasche". Aus diesem Grund
sei man heute auch nicht mehr an der Regierung, meinte Liepina mit
bitterer Miene.
Wie ordnet sich Liene Lipiena politisch ein? Etwas rechts von
der Mitte, aber nicht zu weit rechts, lautet ihre Antwort. Die
lettische Parteienlandschaft sei nicht so deutlich nach dem
Links-Rechts-Schema einzuordnen. So richtig linke Parteien gebe es
nach dem Niedergang des Kommunismus überhaupt nicht mehr. Was
die Rolle des Staates angeht, sei ihre Partei eindeutig rechts. Der
Staat müsse nicht Eigentümer von Unternehmen sein. Er
sollte lediglich das Umfeld für die Betriebe so gestalten,
dass die Menschen mit ihrer Eigeninitiative zum Zuge kommen. Also
eher eine liberale Auffassung. Denkt man aber an das soziale
System, dann sei ihre Partei eher sozialdemokratisch, denn um
Gruppen wie Rentner oder Kinder müsse sich einfach der Staat
kümmern. Es sei denn, man werde das jetzige Rentensystem ganz
abschaffen, was ihrer Meinung nach so schlecht nicht wäre.
Am 3. Mai traf Liene Liepina als Abgeordnete in Straßburg
an. Nein, einen Kulturschock habe sie in der elsässischen
Metropole nicht gerade erlitten, allein schon deshalb nicht, weil
sie ein Jahr lang Beobachterstatus im Europäischen Parlament
hatte. Einen Vorteil habe sie durch ihre Sprachkenntnisse und durch
das Wissen über die Denkweisen in Straßburg und in
Brüssel. Bereits als Dolmetscherin habe sie es als ihre
Aufgabe verstanden, nicht nur zu übersetzen, sondern die Leute
im Gespräch zusammen zu bringen.
Ob die neuen Abgeordneten so richtig ernst genommen werden,
wollen wir etwas despektierlich wissen. Sie habe oft den Eindruck,
die Westler glaubten, alles besser zu wissen, sie hörten nicht
immer richtig zu. Bei Diskussionen höre man oft das Argument,
diese Fragen haben wir hier schon vor 50 Jahren diskutiert, und die
Leute aus dem Osten seien wohl etwas zurückgeblieben.
Gleichzeitig verspüre sie jedoch bei vielen echte Freude
darüber, dass die Osteuropäer endlich angekommen
sind.
Was können die Menschen aus den alten Mitgliedstaaten von
den Balten lernen? Liepina nimmt die Abstimmung über die
Übermittlung von Fluggastdaten an die USA zum Anlass, Kritik
zu üben. Die Parlamentsmehrheit hatte aus Gründen des
Datenschutzes seine Stellungnahme zu dem Vertrag verweigert und
will das Urteil des Europäischen Gerichtshofs abwarten.
Liepina warf der Parlamentslinken eine blauäugige Sichtweise
vor. Man sehe in diesem Fall seine Freiheiten zwar bedroht, aber
andererseits nicht die Bedrohung durch den internationalen
Terrorismus, wenn man auf einen Datenaustausch verzichtet.
Sind die Osteuropäer anti-europäisch und
pro-amerikanisch, man denke an die US-freundliche Erklärung
von zehn Staaten in Vilnius vor dem Irak-Krieg? In der Tat habe man
nicht das Gefühl, sich auf Europa in punkto Sicherheit
verlassen zu können. Europa habe die Balten schon früher
für den Frieden geopfert, was historisch so allerdings nicht
richtig ist. Wenn man das Handeln der Amerikaner in den vergangenen
50 Jahren in Betracht ziehe, sei klar, dass sie nicht so sehr
darauf achteten, was in den Gesetzen geschrieben steht. "Sie gehen
einfach hin" (wie in den Irak). Im Kampf gegen die Sowjetunion
seien sie verlässliche Verbündete gewesen, insbesondere
in den 70er- und 80er-Jahren. Damals habe Deutschland auf die
Entspannungspolitik gesetzt, die Amerikaner jedoch hätten mehr
gewagt. Bei ihren Landsleuten besteht offenbar der Eindruck, dass
man sich auf Europa nicht verlassen kann.
Würde man die Letten fragen, was für sie wichtiger
ist, die NATO oder die EU, dann würden die meisten den
Nordatlantikpakt nennen. Allerdings sei diese Frage rein
hypothetisch, gibt die Abgeordnete zu. Die Balten seien in dieser
Frage vielleicht empfindlicher als die Mitteleuropäer, weil
sie direkter Bestandteil der Sowjetunion waren.
Was bedeutet die EU überhaupt für die Menschen in
Lettland? Das Votum für die Europäische Union sei keine
politische Entscheidung gewesen. Die Menschen hätten einfach
gewollt, dass ihre Kinder einmal besser leben als sie selbst.
Während in den alten Ländern Ängste kursieren, dass
immer mehr Unternehmen nach Osteuropa ziehen, herrscht bei den
Balten offenbar die Besorgnis, dass der Westen mit seinen
großen Unternehmen in das Baltikum kommt und die kleinen
Betriebe dort vom Markt verschwinden müssen. Es gebe viele
Leute, die der Meinung sind, dass der Westen nur Handelsinteressen
am Baltikum habe.
Korruption ist ernsthafte Bedrohung
Was die Außenpolitik angeht, sind die Amerikaner nicht nur
für Liene Liepana interessanter. Im Kampf gegen die
organisierte Kriminalität, den Terrorismus und die Korruption
benötige man zwar die polizeiliche und justizielle
Zusammenarbeit in der EU. Die Korruption stelle eine ernsthaftere
Bedrohung der Demokratie dar als der Terrorismus. Fühlen sich
die Letten überhaupt dem Westen zugehörig? Die Antwort
ist ein klares Ja. Man fühle sich von den europäischen,
vor allem von den christlichen Werten beeinflusst. Und den
Deutschen sei es zu verdanken, dass die Letten das lateinische
Alphabet lernten und nicht das kyrillische.
Wie steht die neue EU-Bürgerin zu künftigen
Erweiterungen? Was die Balkan-Länder betrifft, sei es ganz
natürlich, dass sie in die EU aufgenommen werden müssten.
Und die großen Länder wie die Ukraine? Diese müssten
sich noch in eine andere Richtung entwickeln. Dort fehle der Wille,
überhaupt Veränderungen herbeizuführen. Zuerst aber
müsse die EU ihre zehn neuen Länder verkraften.
Dr. Gerd Werle ist Redakteur beim "Luxemburger Wort".
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