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Helmut Däuble
Die Identität des alten Kontinents ist im
Fluss
Auf der Suche nach einem europäischen
Selbstverständnis
Die Suche nach der so genannten
europäischen Identität ist im Jahr der großen
Osterweiterung im vollen Gange. Noch ist unklar, wo sie zu finden
ist, ob es sie überhaupt gibt oder geben wird. Auch bleibt
unklar, ob wir ein europäisches Wir-Gefühl unbedingt
brauchen.
Befragen wir die Bürger Europas direkt,
so lässt sich laut Eurobarometer feststellen, dass nur etwa
einer von zehn befragten EU-Bürgern sich in erster Linie als
Europäer definiert. Neun von zehn Befragten dagegen geben klar
an, dass ihre primäre kollektive Identität nach wie vor
auf ihre nationale Zugehörigkeit bezogen bleibt. Eine genauso
klare Sprache spricht die Wahlbeteiligung bei der Europawahl.
Beteiligten sich 1994 noch 64 Prozent an der Wahl, so sank die
Wahlbeteiligung im Jahre 1999 auf 48 Prozent. Durch diese Zahlen
wird erkennbar, was nach wie vor wirklich zählt in Europa: die
eigene Nationalität und die nationale Politik. Mögen wir
vielleicht schon ein wenig Europäer geworden sein, aber
vorrangig sind wir es ganz sicher nicht. Europäer sind wir
erst in zweiter Linie, wenn überhaupt.
Plausible Erklärungen dafür liegen
auf der Hand. Solange die wirklich relevanten politischen
Entscheidungen - seien es die aktuellen Reformpakete, sei es das
noch zu verabschiedende Zuwanderungsgesetz - immer noch auf
weitgehend nationaler Ebene angesiedelt sind, wird der Bezug auf
dieses (nationale) Kollektiv vorrangig bleiben. Und solange man das
Europaparlament als Abschiebebahnhof für mehr oder weniger
verdiente nationale Politiker missbraucht, wird "Europa" auch als
kaum etwas anderes wahrgenommen werden können denn als ein
Verwaltungsapparat zur Umverteilung von Mitteln. Jedenfalls nicht
als eine Entität, die eine breite europäische
Bindewirkung erzielen kann.
Des Weiteren hat ein politisches Gebilde, das
sich auf einen Schlag durch die Osterweiterung fast verdoppeln
lässt, ohne klar erkennen zu lassen, welche Länder noch
dazu kommen könnten, wo also eine Grenze liegen könnte,
die Innen von Außen, die Eigen von Fremd unterscheidet, keine
Substanz, auf die sich so etwas wie ein essentielles
Zusammengehörigkeitsgefühl beziehen
könnte.
Die Diskussion, ob die Türkei
dazugehören sollte, belegt nur: Wir Europäer wissen
nicht, wer wir sind, wir wissen nicht, was uns aneinander bindet.
Kurz gesagt ist alles Gerede vom europäischen Wir-Gefühl
das Lippenbekenntnis von Europa-Politikern auf Europa-Tagen, die es
dieser Tage zuhauf gibt. Ihre Anstrengungen, die Europa-Idee zu
lancieren, sind jedoch eher als der Ausdruck nach dem
Bedürfnis einer europäischen Identität zu verstehen,
als dass sie diese bereits verkörpern würden.
Was ein genuines Wir-Gefühl entstehen
lässt, ist der Glaube, dass man eine Gemeinschaft mit anderen
bildet, die in Krisenzeiten zu gegenseitiger Loyalität
verpflichtet. Es ist die Bereitschaft, für das Eigene einer
Wir-Gruppe, der man sich zugehörig fühlt, Opfer zu
bringen.
Eine solche Situation mag zukünftig
kommen, sie muss es aber nicht. Um nur zwei hypothetische Szenarien
anzudeuten: Es könnte zum einen sein, dass eine
ökologische Katastrophe, wie etwa das Überfluten
einzelner Teile Europas, "uns Europäer" zwingt, die Flutopfer
europäisch zu versorgen und damit eine europäische
Initiative zu erwecken, die mit globaler Wirkung ein weitaus
stärkeres Engagement zum Klimaschutz voranbringt. Zum anderen
wäre eine militärische Bedrohung denkbar, die allerdings
als klassische Kriegsgefahr glücklicherweise nicht mehr in
Sicht ist. Solche Gedankenspiele, die sich ausmalen, dass Europa in
einen konventionellen Krieg gerät, der die Europäer in
Europa als Kollektiv bedroht, sind momentan erfreulicherweise
müßig. Dennoch ist nicht ausgeschlossen, dass eine Art
von asymmetrischem terroristischen Krieg "gegen" Europa auf uns
zukommt, der in Madrid seinen Ausgang genommen haben mag. Auch wenn
das rein fiktive Annahmen sind, so weiß man doch nicht zuletzt
seit Jürgen Kockas Forschungsarbeiten zur Nationenentwicklung
des 19. Jahrhunderts, welche Rolle der "Krieg als Geburtshelfer von
Nationalstaaten" gespielt hat.
Dass sich solche engen kollektiven Bindungen,
die sich in selbstverständlichen Treueverhältnissen in
Fällen eines Aufeinanderangewiesenseins manifestieren, auch
missbrauchen lassen, zeigen die nationalistischen Ausschweifungen
des 20. Jahrhunderts überdeutlich.
Eine europäische Identität wird es
wohl nur geben können, wenn wir, die Europäer, etwas
haben, das im breiten Konsens als etwas spezifisch
verteidigungswürdig Europäisches wahrgenommen wird. Eine
Integration ist nur möglich, wenn die Differenz zu Anderen,
wenn die Grenze des Eigenen den Mitgliedern einer Wir-Gruppe ebenso
bewusst und ersichtlich ist, wie den
Nichtdazugehörigen.
Aber gibt es nicht schon ein Bündel von
gemeinsamen Werten bzw. Kriterien, die neue EU-Mitglieder
erfüllen müssen und zu denen etwa Demokratie, Menschen-
und Bürgerrechte, Gewaltenteilung, Pluralismus,
Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und Religionsfreiheit
gehören, um nur einige zu nennen? Sicher, doch sind diese
Werte in je eigener Kombination zwischenzeitlich
glücklicherweise in vielen Teilen der Welt anzutreffen. Gerade
die europäische Form der Demokratieausbreitung, die gelungene
Universalisierung der Aufklärung, die globalisierte
Modernisierung, welche allesamt von Europa ausgingen, haben die
Europäer zunächst und paradoxerweise um ihre
Eigentümlichkeiten gebracht. Der Erfolg Europas, die
Europäisierung der Welt ist eine der Ursachen, warum wir
Schwierigkeiten bei der Identitätssuche haben, um das Wort
Identitätskrise zu vermeiden.
Die schnellste Form der Neukonstruktion
Europas ist verführerisch, letztlich jedoch der falsche Weg,
der zu einem maroden Fundament eines geeinten Europas führt.
Die Rede ist von der Heerschar an Intellektuellen, die uns Europa
als etwas ewig schon Existentes nahe bringen wollen, dessen
"natürliche und geschichtliche" Zusammengehörigkeit
bisher schlicht übersehen worden sein soll. Diese "Produzenten
von kollektiver Identität" (Bernhard Giesen) erzählen uns
die Geschichte Europas als Geschichte von zahllosen Jahrtausende
alten Gemeinsamkeiten. Die gemeinsame Geschichte, die gemeinsame
Religion (natürlich das Christentum), die gemeinsamen Sitten
wie Recht und politische Kultur, ja überhaupt die gemeinsame
europäische Kultur, die sich in der Literatur, in der Kunst,
in der Musik und in der Architektur zeigt, seien doch
offensichtlich. Haben wir nicht auf unseren neuen Euro-Geldscheinen
Bauwerke unterschiedlicher Jahrhunderte, die als paneuropäisch
gelten?
So wie die "Erbfeindschaft" zwischen
Deutschen und Franzosen als ewig und naturgegeben angesehen wurde
und über Jahrhunderte hinweg rückerzählt und
tradiert wurde, so wird gegenwärtig Europa als natürliche
Entität narrativ reproduziert. Keine Talkshow über das
Thema "Europäische Identität", ohne dass die
Ursprungslegende von Zeus und der entführten Prinzessin
erzählt wird, kein Schulbuch und keine Erziehungsinstanz, die
nicht vehement - und dabei die Grenze der Indoktrination bereits
überschreitend - darauf hinweisen, dass zahlreiche "Konstanten
unseres gewachsenen geistigen Besitzes als Europäer"
(Deutscher Lehrerverband) uns gleichsam automatisch die
Zusammengehörigkeit sowie ein paneuropäisches Bewusstsein
bescheren. Selbst die Präambel der im Entstehen begriffenen
Verfassung für Europa gründet sich stolz fast schon
überheblich auf ein altes schon immer zusammengehöriges
Europa: "In dem Bewusstsein, dass der Kontinent Europa ein
Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn
schon seit den Anfängen der Menschheit in immer neuen
Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte
entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der
Menschen, Freiheit, Vorrang der Vernunft, ..."
Faschismus und Stalinismus scheinen demnach
nichts typisch Europäisches zu sein, Holocaust und Archipel
Gulag gelten hierbei wohl nur als bedauerliche
Ausnahmeerscheinungen und Entgleisungen eines ansonsten
zivilisierten Europas. Seit den bahnbrechenden Arbeiten von Eric
Hobsbawm und Benedict Anderson über die "Erfindung der Nation"
sind wir Europäer zu aufgeklärt, als dass wir das
Beharren auf der Zeitlosigkeit der kulturellen und
zivilisatorischen europäischen Leistungen als Grundlage eines
Zusammengehörigkeitsgefühls nicht als Konstrukt
durchschauen könnten. In Krisenzeiten hätte eine solche
artifizielle Identität keine Chance europäische
Loyalität und Solidarität zu
gewährleisten.
Was also könnte eine europäische
Identität tatsächlich begründen, was ist
verteidigungswürdig Bindendes? Was den ideellen Kern eines
europäischen Selbstverständnisses ausmacht, ist oft
deutlicher zu erkennen, wenn man den Blick von außen auf
dieses Gebilde wirft. Getan hat das für uns der amerikanische
Politologe Robert Kagan, der Europa in einem heftigst diskutierten
Artikel wie folgt beschreibt: "Europa hat sich von der Macht
losgesagt, es bewegt sich auf eine Welt zu, die fest in Gesetze und
Regeln, in transnationale Vereinbarungen und Kooperationen
eingebunden ist. Man betritt ein posthistorisches Paradies der
Gewaltfreiheit und des relativen Wohlstands, in dem sich Immanuel
Kants Ideal vom ewigen Frieden verwirklicht" (Die Zeit 1. Juli
2002). Kagan betrachtet das pazifistisch gewordene und auf
Multikulturalismus eingeschworene Europa, das nur noch die
außenpolitischen Mittel der "Diplomatie, Verhandlungen,
Geduld, wirtschaftliche(n) Beziehungen und politischen
Bemühungen, die Anwendung von Anreizen statt Sanktionen,
kleine Schritte und gezügelten Ehrgeiz" kennen würde, mit
verständnisvollem Paternalismus. Letztlich hält er diese
Grundhaltungen jedoch für naiv. Nur weil Europa relativ
schwach geworden wäre, neige es zur "Abneigung gegenüber
Gewalt als politischem Instrument in internationalen Beziehungen".
Kagan führt diese "friedfertige Kultur" zurück auf seine
"von Kriegen verdüsterte Vergangenheit". Sein Ratschlag
mündet darin, diese Schwächephase zügig zu
überwinden. Europa solle seine "militärischen
Fähigkeiten" ausbauen und so endlich wieder in die Hobbe?sche
Welt zurückkehren, in der es gilt, gemeinsam mit den USA die
zahlreichen Schurkenstaaten dieser Welt zu
bekämpfen.
Doch gerade diese Orientierung an
möglichst friedfertiger Beilegung von Konflikten, der strikten
Beachtung von Völkerrecht, der Unterstützung der
Vereinten Nationen als einer Institution, die zukünftig keiner
Supermacht mehr unterlegen ist, der Absage an Unilateralismus und
der Beförderung von multilateralem Handeln machen einen Kern
an europäischem Selbstverständnis aus, der es gerade
gegenüber den USA wert ist, verdeutlicht und verteidigt zu
werden. Es gibt eine überwiegende Mehrheit in der
europäischen Bevölkerung, die der gegenwärtigen
Politik der USA, die Krieg und militärische Gewaltanwendung
als selbstverständliches Mittel der Politik wieder
hoffähig zu machen sucht, ablehnend gegenüberstehen. Eine
Krieg-als-Fortsetzung-der-Politik-Ideologie steht dem
europäischen Selbstverständnis diametral
gegenüber.
Europäisches Selbstverständnis ist
allerdings nicht das gerade Gegenteil solcher fundamentalistischen
Grundhaltungen. Nicht radikaler Pazifismus ist zu einer
europäisch geteilten Überzeugung gegenüber
martialischem Hegemonialstreben geworden, sondern der vorsichtige
Umgang mit militärischen Mitteln, ihr Einsatz nur als Ultima
Ratio.
Doch sind antimilitaristische und
antiimperialistische Grundhaltungen nicht die einzigen
Einstellungen, die zu einem europäischen Bindegewebe werden
könnten. Vielleicht lässt sich das, was uns Europäer
tatsächlich eng verbindet, als ein generelles Misstrauen und
eine generelle Distanz zu fundamentalistischen Vorstellungen von
Politik bezeichnen. Diese gemeinsame Haltung resultiert aus
zahlreichen negativen Erfahrungen, die Europa in seiner Geschichte
durchleben musste. Die Überwindung von Faschismus und
Kommunismus, die konsequente Wehrhaftigkeit gegenüber Rechts-
wie Linksextremismus lassen sich dabei als zentrale Schubkraft
einer europäischen Integrationslokomotive benennen. Das, was
heute unsere selbstverständliche Zuwendung zu Menschen- und
Bürgerrechtsfragen und deren Schutz ausmacht, ist Resultat aus
der radikalen Verneinung solcher Rechte durch die beiden genannten
fundamentalistischen Großideologien des 20. Jahrhunderts.
Antifundamentalismus als Nukleus einer europäischen
Identität ist also das Ergebnis aus bitteren
historisch-gesellschaftlichen Lernprozessen. In der Abwehr von
gegenwärtigen Fundamentalismen liegt demnach eine große
Chance, dass die durchaus schon vorhandenen Keimzellen eines
europäischen Bewusstseins und Wir-Gefühls sich zu einem
lebendigen Gebilde entwickeln.
Antifundamentalismus ist Europäern auch
in wirtschaftlicher Hinsicht zu eigen geworden. Die Abwehr eines
entfesselten Neoliberalismus wie zugleich einer alle
gesellschaftlichen Bereiche penetrierenden Staatswirtschaft sind
gleichermaßen europäisch geteilte his-torische
Lernerfahrungen. Die Überwindung der sozialistischen
Staatswirtschaften in Osteuropa ist daher sicherlich eine der
größten antifundamentalistischen Erfolge, den die Idee
des Liberalismus vorzuweisen hat. Insbesondere die Abwehr von
leistungshemmenden, wenn nicht leistungsabtötenden staatlichen
Bevormundungen und von Staatsinterventionismus bleibt als
Lernerfahrung auch weiterhin europäisches
Selbstverständnis. Doch gehört zur Idee Europa nicht nur
die unersetzliche private Leistungsorientierung, sondern immer auch
die sozialstaatliche Wohlfahrtsorientierung für diejenigen,
die nicht in dem Maße leistungsfähig sind, wie es eine
marktorientierte Leistungsgesellschaft erfordert.
Wenngleich Sozialreformen aus vielerlei
Gründen unabdingbar geworden sind, ist der ungebändigte
Neoliberalismus doch in seinen Forderungen nach einer radikalen
Beschneidung zu einer fundamentalistischen Ideologie geworden, die
vergisst, welche Bindewirkungen aus dem Zusammenspiel von
Leistungs- und Wohlfahrtsorientierungen entstehen. Es gilt, die
wohltemperierte Balance zwischen Leistung und Solidarität zu
reformieren und neu gestaltet zu bewahren. Auch wenn der
Sozialstaat dahingehend reformiert und modernisiert werden muss,
dass eine wagemutige individuelle Leistungsorientierung
befördert wird, besteht momentan viel eher die Gefahr, dass
der Neoliberalismus die europäische Gesellschaften spaltet
anstatt zu deren Integration beizutragen. Der Neoliberalismus
angelsächsischer Prägung kann also kein Modell für
Europa sein.
Der andere gefährliche Fundamentalismus,
den die Europäer gemeinsam abweisen müssen, ist der
religiöse Fanatismus. Die bereits als Konsequenzen aus dem
30-jährigen Krieg sich allmählich entwickelnde
Säkularisierung sowie Trennung von Kirche und Staat haben sich
in Europa als Basisüberzeugungen durchgesetzt, und selbst wenn
sich noch große europäische Volksparteien mit dem C des
Christentums im Namen schmücken, so ist auch bei diesen
Parteien die Trennung von Kirche und Staat weitgehend
selbstverständlich geworden. Keine europäische Bewegung,
die sich für einen Gottesstaat einsetzen würde,
hätte heute eine Chance im Gegensatz zum arabischen Raum, wo
islamistische Fanatiker den Märtyrertod zu sterben bereit
sind, um dieses Ziel zu erreichen. Doch ist bei all dieser
aufgeklärten europäischen Grundhaltung islamistischem
Fanatismus gegenüber nicht zu übersehen, dass
Fundamentalismus nicht spezifisch für den Islam, sondern bei
allen Glaubensgruppen vorzufinden ist. In der Abwehr eines
religiösen Fanatismus jeglicher Herkunft könnten
aufgeklärte europäische Christen, Juden, Muslime,
Atheisten usw. sich ihrer antifundamentalistischen Gemeinsamkeiten
gewahr werden und so ihr diesbezügliches europäisches
Selbstverständnis als starke Bindekraft wahrnehmen. Noch
verhindert die Vorstellung vom "Kampf der Kulturen" und die
häufig vorfindliche Wahrnehmung des Islam als einer
"uneuropäischen" Religion jedoch die Ausbildung eines
solcherart geprägten aufgeklärten europäischen
Wir-Gefühls. Bezeichnenderweise gilt für uns
Europäer auch in dieser Frage, sich von der dominierenden
US-amerikanischen Weltneuordnungsideologie zu distanzieren, die
sich in göttlichem Auftrag einer Welt der Bösen
gegenübersieht und damit selbst sehr nahe an religiösem
Fundamentalismus steht.
Zusammenfassend lässt sich nun
festhalten, dass die Essenz einer europäischen Identität
längst vorhanden ist. Die im Wesentlichen aus den Erfahrungen
des 20. Jahrhunderts erwachsene und die Europäer einigende
Grundhaltung ist die des Anti-Fundamentalismus, der Ablehnung von
Extremismus, Fanatismus und politischem Messianismus. Eine
europäische Identität muss deswegen nicht
antiamerikanisch sein. Mit den USA bleiben wir gemeinsam westlichen
Werten verpflichtet und teilen eine Demokratie und Menschenrechte
prinzipiell achtende politische Kultur. Doch ist der Westen
insgesamt groß und erwachsen genug geworden, dass eine
Emanzipation des Ziehsohns Westeuropa und dessen Vermählung
mit Osteuropa samt Gründung eines eigenen Hausstands
überreif geworden ist.
Nach dem Ende des Kalten Krieges braucht der
Westen auch interne Gegenmodelle, die um die jeweils bessere Form
der Umsetzung von liberaler Demokratie und Marktwirtschaft ringen.
Es ist jedoch nur sehr schwer vorherzusagen, ob sich die
Europäer der Gemeinsamkeiten als Kohäsionskräfte
ihrer eigenen kollektiven Identität bedienen. Die Zukunft ist
so wenig determiniert, wie sich eine kollektive Identität
einer Großgruppe überstülpen lässt. Letztere
entsteht im oft harten Diskurs und der Verteidigung nach innen wie
nach außen. Hoffnung besteht jedoch, dass ein Europa ohne
Katastrophen zusammenwächst und antifundamentalistisch sowie
demokratisch bleibt.
Der Autor ist Politologe mit einem
Lehrauftrag an der Hochschule Ludwigsburg.
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