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Johannes L. Kuppe
Von den neuen Ländern lernen
Ost- und Westdeutsche müssen gemeinsam die
Zukunft gestalten
Wenn sich 20 Journalisten, Politologen, Historiker,
Kulturwissenschaftler und aktive Politiker Gedanken über die
Zukunft Deutschlands machen, muss man keine große
Homogenität erwarten. Was zählt, sind Originalität
und Solidität der eigenen Gedanken. Beides kann man allen
Autoren dieses Bandes bescheinigen, - mit einer Einschränkung:
Die meisten Beiträge verharren zu lange in - allerdings sehr
realistischen - Zustandsdiagnosen vor allem über
Ostdeutschland, es mangelt an konkreten Zukunftsprojekten. Wenn
sich Ostdeutsche (endlich) in den innerdeutschen
Kommunikationsprozess mehr als bisher einschalten, ist man
gespannt, ob und welche Impulse sie gegeben.
Eine gemeinsame Botschaft dominiert in mehreren Versionen: Die
Westdeutschen können von den Erfahrungen der Ostdeutschen aus
den letzten 13 Jahren lernen; sie müssen es sogar, wenn das
ganze Land den gesellschaftlichen Umbruch erfolgreich
abschließen will. Vor allem müssen die Westdeutschen
erstmal genau hinsehen, was "drüben" eigentlich passiert
(ist). Es ist wahrlich keine erfahrungslose Prophetie, wenn Tanja
Busse und Tobias Dürr einleitend prognostizieren, "dass die
Umbrucherfahrungen der Ostdeutschen dem Westen der gemeinsamen
Republik erst noch bevorstehen".
Manchmal wird der Leser nach pessimistisch stimmenden
Beobachtungen mit optimistischen Visionen entschädigt. So
deprimiert nicht wenig, wenn Uwe Rada zunächst über die
Entvölkerung ostdeutscher Städte und die
De-Industrialisierung ganzer ostdeutscher Regionen klagt. Dann aber
verweist er auf den Erfindungsgeist, Innovationswillen und die
Kooperationsbereitschaft zum Beispiel in den deutsch-polnischen
Grenzmilieus, wo, fast unbemerkt, Keimzellen eines neuen,
zusammenwachsenden Europas entstanden seien, die die Ostdeutschen
geradezu als Pioniere eines neuen Europa erscheinen lassen.
Hübsch zu lesen, aber nicht gerade originell ist der
Vorschlag des Berliner Kultursoziologen Wolfgang Eng-ler, die
deutsche Arbeits- und Sozialwelt nach skandinavischem Vorbild
umzubauen, wo doch alles ganz prächtig funktioniere.
Mitnichten! Einen Einwand for-muliert Engler schon selbst: In
kleinen Staaten lässt sich manches leichter organisieren, als
in zehnmal so großen. Engler übersieht ein großes
Hindernis für eine derartige Transformation: Arbeitswelten
haben ihre eigenen Traditionen, manchmal sehr alte. Sie lassen sich
nicht kurzfristig, meist nicht einmal mittelfristig durch
rationalistische Reformen von heute auf morgen und dazu noch in
Krisensituationen umbauen. Wenn überhaupt, gelingt das nur
langfristig, in ganz kleinen Schritten. Darüber hinaus wird
das nordische Modell auch vor Ort immer stärker in Frage
gestellt.
Von Engler stammt der auf Westdeutsche provokant wirkende Spruch
"Die Ostdeutschen als Avantgarde". Wie das auch gemeint sein
könnte, macht Matthias Platzeck, der Ministerpräsident
Brandenburgs, in seiner vorzüglichen Diagnose deutlich. Die
Ostdeutschen haben bereits die Erfahrung eines absterbenden
Gemeinwesens, der DDR, gemacht, erleben also die gegenwärtige
Situation nicht in derselben Weise als Krise wie die Westdeutschen.
Diese stürzen in die aktuelle Umbruchsituation mit der
trügerischen Selbstsicherheit der bisher stets Erfolgreichen
und erleben sie als Absturz, dessen erste Version der Osten schon
hinter sich hat. Mit Genuss liest man daher auch, wie Platzeck das
Katastrophengefasel ehemals prominenter Westdeutscher (Arnulf
Baring: "Bürger auf die Barrikaden") schier der
Lächerlichkeit preisgibt.
Manche Beiträge müssten den politischen,
wirtschaftlichen und medialen Eliten in Deutschland zur
Pflichtlektüre gemacht werden. Wir sind wohl tatsäch-lich
auf dem falschen Weg oder bemühen uns wenigstens nicht
ausreichend um den richtigen. Tobias Dürr schildert
eindrücklich, warum wir an einer Weggabelung stehen: "Wer in
Zukunft noch einmal Wachstum, Wohlstand für viele und eine
sozial integrierte Gesellschaft erlangen will, wird völlig
andere Wege einschlagen müssen als jene, die das heute
verblichene Wirtschaftswunderland einst so erfolgreich machten. Die
westdeutsche Vergangenheit als Modell und Vorbild für die
wiedervereinigte Zukunft - das jedenfalls konnte von Anfang an
nicht gut gehen." Fehler, die gemacht wurden, sind, so Dürr,
nicht mehr reparierbar. Aber noch ist es nicht zu spät, neue
Fackeln der Hoffnung wenigstens für die Kinder der
Ausgeschlossenen zu entzünden. Der neue Weg heißt mehr
Teilhabe an der gesellschaftlichen Entwicklung für viel mehr
Menschen als heute. Sonst drohe der Niedergang zum unumkehrbaren
"Großtrend" zu werden.
Schließen wir mit dem Beitrag des Kultursoziologen Detlef
Pollack aus Frankfurt/Oder. Er gibt Antwort auf Fragen, die von den
ewig wiederholten und sicher nur teilweise richtigen Zuschreibungen
an die Adresse der Ostdeutschen zugedeckt werden. Ihre vermeintlich
riesige Bastel- und Chaoskompetenz kontrastiert doch auf
merkwürdige Weise mit ebenso vermeintlicher Lethargie,
Hoffnungslosigkeit und wieder aufkeimender DDR-Nostalgie, die
angeblich selbstsichere westdeutsche Konsumbürger
"drüben" glauben feststellen zu können. Warum sollten
gerade "die uns" als Avantgarde dienen? Warum wird ihnen noch nicht
einmal richtig zugehört?
Sie haben, so Pollack, noch "keine Stimme im gesamtdeutschen
Diskurs gewinnen" können, weil sie selbst noch keine
"kritische und faire Auseinandersetzung mit dem Leben in der DDR"
geführt, nach "ihrer Verstrickung in das DDR-Regime" gesucht
haben, weil sie "sich gezwungen fühlen, einen wichtigen Teil
ihrer selbst zu verleugnen, zu beschönigen, zu verdammen, zu
belächeln, zu ironisieren, zu heroisieren". Pollack formuliert
dies ausdrücklich nicht als Vorwurf, sondern als diagnostische
Feststellung. Doch schlagartig wird klar, was für die innere
Integration Deutschlands noch zu tun bleibt.
Dieses Buch hat große Verdienste, die freilich erst zum
Tragen kommen, wenn es viele Menschen auch lesen. Da wird mit
Vereinigungsmythen aufgeräumt (Frank Decker), das wird
Hoffnung gemacht (Wolfgang Schroeder) und selbstkritisch
diagnostiziert. Es gibt ihn schon in Ansätzen, den
innerdeutschen Diskurs über Wege in eine humane Zukunft. Aber
er ist noch ein schwaches Pflänzchen und braucht mehr
Pflege.
Tanja Busse/Tobias Dürr (Hrsg.)
Das neue Deutschland. Die Zukunft als Chance.
Aufbau-Verlag, Berlin 2003; 328 S., 15,90 Euro
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