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Renate Rammelt
Powerfrau auf "Männerposten"
Gelebte Medizingeschichte in Ost und
West
Vom Bucheinband schaut uns eine Frau mit blonder Hochsteckfrisur
über ihre Brillengläser direkt in die Augen. Sie hat die
Brauen hoch gezogen, die Stirn leicht gekräuselt, den Mund
einen winzigen Spalt geöffnet. Ihre wachen, weit aufgerissenen
Augen scheinen zu fragen: Könnt ihr zuhören, ich habe
eine Menge zu erzählen.
Frau Professor Dr. Renate Baumgarten hat ihre Autobiografie
geschrieben. "Not macht erfinderisch" nennt sie den rasanten Marsch
durch drei Jahrzehnte ihres Wirkens als Chefärztin in
Deutschland Ost und West. Die kleine Frau, deren Erscheinen sich
meist schon durch das stakkatoartige Klicken ihrer hohen
Absätze ankündigte, hat eine bemerkenswerte
Medizinerinnenkarriere aufzuweisen. Nichts scheint ihr dabei
geschenkt worden zu sein, im Gegenteil.
Aus bürgerlichem Hause kommend, waren für sie die
Aufnahme in die Erweiterte Oberschule und die Zulassung zum
Medizinstudium in der DDR nur möglich, weil sie
außergewöhnlich gute schulische Leistungen aufweisen
konnte. Auch nach dem Studium galt es für sie, mit enormem
Fleiß, Intelligenz, ausgeprägtem
Verantwortungsgefühl und Ehrgeiz über Umwege zum Ziel zu
gelangen. Eine Frau, die in die Domäne der Männer
eindringt, noch dazu in der Medizin, ist auch heute noch eine
Ausnahmeerscheinung und nur bedingt Sympathieträgerin.
Was will diese Person hier, welchem Mann nimmt sie einen Platz
weg, sollte sie nichtbesser eine Liga tiefer spielen? Das sind die
Fragen - offen gestellt oder latent im Raum schwingend -, denen
sich Renate Baumgarten auf ihrem Weg zur Fach- und Chefärztin
immer wieder stellen musste.
Taktloser Berliner Senat
Gipfel der persönlichen Beleidigung waren wohl die
Anhörungen der Ehrenkommission des Berliner Senats in den
Jahren 1992/93. Die Kommission überprüfte damals alle
Mitarbeiter der städtisch verwalteten Krankenhäuser vor
Übernahme in den Öffentlichen Dienst auf eine
mögliche Stasi-Mitarbeit. Die Medizinprofessorin erzählt
in ihrem Buch, wie sich ein Mitarbeiter der Senatsabteilung des
Inneren lautstark über die erfahrene Chefärztin der
Infektionsklinik des Krankenhauses Prenzlauer Berg wunderte:
"Wie kommen Sie zu dieser Position? Es hat doch auch in der DDR
genügend befähigte Männer gegeben, die diese Aufgabe
hätten erfüllen können. Dazu braucht man keine Frau!
Auch wenn nichts Aktenkundiges gegen Sie vorliegt, Sie werden Ihre
Dienste dafür geleistet haben."
Amüsant und mit besonderem Erkenntnisgewinn zu lesen sind
ihre Dienstreisen ins westliche Ausland. Zählte zu DDR-Zeiten
nur die Tatsache, dass der oder die Reisekader, also privilegiert
ist, stellt sich im Nachhinein ein gewisses Mitgefühl
dafür ein, wie es beispielsweise einer renommierten
Medizinerin ergangen sein muss, die praktisch mittellos, ohne ein
Pfennig Westgeld, zu einem Fachkongress geschickt wurde. Sie
beschreibt mit (Galgen-)Humor, wie sie sich in einem Restaurant ein
Glas Mineralwasser ordert und dazu alle trockenen Brötchen,
die auf dem Tisch stehen, blitzschnell auffuttert. Not macht
erfinderisch! Der Buchtitel beschließt so manche mehr oder
weniger pointiert erzählte Episode ihrer
Ärztekarriere.
Schwachpunkt
"Mehr oder weniger", genau hier liegt wohl ein Schwachpunkt des
Buches. So unstrittig ihre Kompetenz als Medizinerin und
Wissenschaftlerin ist, eine Literatin ist sie nicht, auch wenn die
Autobiografin ihre Liebe zum Schreiben betont und sich selbst
zuweilen kokett als "Reserveschiller" tituliert. Ein gestrenger und
durchsetzungsfähiger Lektor hätte der erzählten
Rückschau gut getan. Erinnerte Situationskomik aufzuschreiben
ist eine hohe Kunst; sicher registriert der aufmerksame Leser, mit
wie viel Schlagfertigkeit die Medizinerin manch brisante Situation
in ihrem Leben gemeistert hat, aber ein rechter Lesegenuss will
sich nicht einstellen. Auch hätte auffallen müssen, dass
15 Seiten(!) nachgedruckter Laienkabaretttext aus DDR-Zeiten, auch
wenn die Texte allesamt von der Autorin stammen, des Guten einfach
zu viel sind.
Und auf jeden Fall sollten Zitate stimmen, schon gar, wenn es
sich um einen Klassiker, wie das "Kommunistische Manifest" handelt.
Der tagespolitische Rundumschlag am Schluss fällt
schließlich völlig aus dem Erzählton und -rahmen der
erlebten Medizingeschichte. Das wäre entbehrlich gewesen.
Wahrscheinlich lässt sich eine Powerfrau wie Renate
Baumgarten nicht zügeln, auch nicht von einem Lektor oder
einer Lektorin, und vielleicht ist das sogar gut so, wenngleich es
- wie gesagt - dem Buch besser getan hätte.
Renate Baumgarten
Not macht erfinderisch.
Drei Jahrzehnte Chefärztin in Ost und West.
Mitteldeutscher Verlag, Halle/S. 2004;
277 S., 24,90 Euro
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