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Ines Gollnick
Den ganzen Menschen bilden
Johannes Rau's Plädoyer für eine
Bildungsreform
Es ist sein letztes Buch als Bundespräsident. Wie um dem
Rechnung zu tragen, steht "Johannes Rau" in viel größeren
Buchstaben auf dem Umschlag, als in der Regel üblich; darunter
ein Foto, auf dem das Staatsoberhaupt Jugendlichen die Hand reicht,
ein Foto der Nähe und der Harmonie, vielleicht auch symbolisch
für Verantwortung. Der etwas umständliche Buchtitel
klingt zwar nicht, macht aber deutlich, um was es Rau im Kern
geht.
Rau plädiert für ein ganzheitliches
Bildungsverständnis, - ein Ansatz, von dem er offenbar glaubt,
dass er in der aktuellen Diskussion mit Begriffen wie Bildungs- und
Qualitätsstandards, Ganztagsschulen, Eliten und
Bildungsökonomie zu wenig Beachtung findet. "Bildung ist
Persönlichkeitsentwicklung. Da geht es um Geist und
Gefühl, um Körper und Seele. Bildung hat ihren eigenen
Sinn und ihren eigenen Wert, jenseits aller Nützlichkeit im
Arbeitsleben."
Wer Rau mit diesem Ansatzpunkt einen hoffnungslosen "Romantiker"
nennt, hat ihn nicht verstanden: "Ich bin fest davon
überzeugt, dass ein ganzheitliches Verständnis von
Bildung heute noch wichtiger ist. Wer sich in einer Welt
zurechtfinden will, die sich immer schneller verändert und die
immer unübersichtlicher wird, der braucht mehr als Fachwissen.
Der braucht Eigenverantwortung und Gemeinschaftssinn,
Kreativität, Urteilsvermögen und
Orientierungsfähigkeit."
Bildungsfragen standen bei Rau immer ganz oben. Er ist gelernter
Verlagsbuchhändler, leitete einen Verlag (1954 - 67), bevor er
Wissenschaftsminister (1970 - 1978) und Ministerpräsidnet in
NRW war. Dass er als Vater von drei Kindern (Jahrgang 1983, 1985
und 1986) beim Thema Bildung zudem persönlich eingebunden ist,
gibt seinen Ausführungen mehr Überzeugungskraft.
Fachleuten bietet das Buch nichts wirklich Neues, denn die Texte
wurden nicht extra für den Band geschrieben. Er enthält
Reden von Rau aus den vergangenen vier Jahren - insgesamt 29 -, die
in den fünf Abschnitten ("Bildung und Wissen", "Schule und
Demokratie", "Aus- und Weiterbildung", "Wissenschaft und
Hochschule", "Musische Bildung") zusammengefasst sind. Für
alle anderen Leser bietet das Buch eine Vielfalt an Themen zu allen
Bereichen der Bildung, ob politische und musische oder Aspekte, die
Bildung und ihre Rolle für die Integration unterstreichen.
Die Texte lassen sich, eben weil es Reden sind, schnell und
flüssig lesen. Wer Raus Reden kennt, weiß, dass gerade
ihre Verständlichkeit ein Markenzeichen ist. Hierin liegt auch
die Chance, andere Leserschichten zu erreichen, - Menschen, die
nicht unbedingt Vielleser sind. Und gerade für sie wäre
der Quellennachweis, also welche Rede wo gehalten wurde, am Anfang
zur Orientierung hilfreich gewesen, damit die zeitliche Einordnung
leichter fällt. Ein Manko ist auch, dass ein Sach- und
Personenregister fehlt.
Eine Sonderstellung nimmt der Schlusstext ein, Raus Rede zum
Gedenken an die Opfer des Mordanschlags in Erfurt im Mai 2002 mit
der Überschrift "Einander achten und aufeinander achten".
Dramaturgisch bewusst als Schlusspunkt gesetzt, ist er ein
Plädoyer dafür, jenseits von allen notwendigen Reformen
und Anforderungen den ganzen Menschen im Auge zu behalten. Diese,
seine schwerste Rede, wie er selber sagt, betrifft die Schule in
Erfurt, an der er selbst als Evakuieerungskind lernte.
Johannes Rau
Den ganzen Menschen bilden - Wider den
Nützlichkeitszwang.
Plädoyer für eine neue Bildungsreform.
Beltz Verlag, Weinheim 2004; 272 S., 14,90 Euro
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