Herbert Eichmann
Medizin für das"Schlusslicht" in der Mitte
Europas
Hans-Werner Sinns alarmierende Diagnose
über Deutschland
Ist Deutschland noch zu retten? Der Titel des Bandes stellt eine
ehrgeizige Frage und gibt eine
500 Seiten starke Antwort. Auf der Einbandrückseite stehen
Empfehlungen von Vertretern erster Wirtschaftsadressen,
Siemens-Vorstand Heinrich von Pierer, Roland Berger, Hans-Olaf
Henkel. Haben wir es hier einmal mehr mit einer PR-Publikation des
Unternehmerlagers zu tun?
Mitnichten. Hans-Werner Sinn, renommierter Nationalökonom
der Münchner Universität und Präsident des
ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, liefert kein
Gefälligkeitsgutachten ab. Er sucht die Kontroverse, teilt
nach allen Seiten aus: Das "Tarifkartell" der Gewerkschaften wird
der allmählichen "Vernichtung des Wirtschaftsstandortes
Deutschland" angeklagt; die zunehmende Arbeitslosigkeit nehme es
"billigend in Kauf". Die "Schleuderaktionen der Treuhand"
hätten Subventionen in mehrstelliger Milliardenhöhe in
einem "Strohfeuer" verheizt; der "Kahlschlag" hätte die neuen
Bundesländer schließlich drei Viertel ihrer
Industriearbeitsplätze gekostet.
Deutschlands Politiker schließlich, von Brandt bis Kohl,
bekommen durchgehend schlechte Zensuren: Sie alle seien mit dem
"Versuch, soziale Ziele gegen die Regeln der Marktwirtschaft
durchzusetzen, gescheitert".
In acht Kapiteln analysiert der Autor die Prozesse, die
Deutschland zum "kranken Mann Europas" gemacht haben: Das
"Schlusslicht Deutschland" ächzt unter einer untragbaren
Abgaben- und Ausgabenlast; Investitionen schrumpfen, die
Arbeitslosenzahlen steigen, das Wachstum nimmt dramatisch ab.
Selbst Irland und Österreich erwirtschaften inzwischen ein
höheres Bruttosozialprodukt.
Deutschland habe drei Schocks gleichzeitig zu verdauen: den
Euro, einen maroden Binnenmarkt und drohende Konkurrenz nach der
EU-Erweiterung (Kapitel 2). Der Arbeitsmarkt befindet sich im
"Würgegriff der Gewerkschaften"; Hochlohnpolitik,
Flächentarife und starrer Kündigungsschutz spalten
Deutschland in Arbeitsplatzbesitzer und Arbeitslose; mögliches
Wachstum wird so erstickt (Kapitel 3).
Der Sozialstaat tritt in direkte Konkurrenz zur Wirtschaft;
Sozialleistungen werden zunehmend zu "Jobkillern" (Kapitel 4). Im
"deutschen Mezzogiorno" leben immer mehr Menschen von westdeutschen
Transferleistungen; Lohnersatzleistungen sind "an die Bedingung des
Nichtstuns geknüpft", Lohnkosten überholen die
Produktivität (Kapitel 5). Der "Steuerstaat" ist ein Faß
ohne Boden (Kapitel 6), das vergreisende Land lebt auf Kosten der
nachfolgenden Generationen (Kapitel 7) und die EU-Erweiterung
führt, trotz aller Chancen, voraussichtlich zur "Zuwanderung
in die Arbeitslosigkeit". Zudem blute Deutschland durch
Billiglohnkonkurrenz und Flucht vor allem des Mittelstandes
Richtung Osten zunehmend aus (Kapitel 8). Eine verheerende
Diagnose.
Sinn belässt es nicht dabei. Seine Therapievorschläge
sind in einem "6+1-Programm für den Neuanfang" knapp
zusammengefasst. Nicht alles lässt sich hier wiederholen. Nur
so viel: Sinn setzt vor allem auf freie Regulierung der Löhne
durch den Markt und auf "aktivierende Sozialhilfe": Sie soll
künftig Niedriglöhne ergänzen statt - wie bisher -
Löhne ersetzen. Er will Flächentarife abbauen zugunsten
betrieblicher Abschlüsse und jeden Kündigungsschutz
beseitigen. Für die neuen Bundesländer sollten Regeln
einer "Sonderwirtschaftszone" gelten (hier ist er sich einig mit
Altbundeskanzler Helmut Schmidt). Im übrigen sollte man den
Markt gewähren lassen und die Staatsquote so weit als
nötig senken.
Das konsequent durchdachte Buch wird viel Widerspruch
hervorrufen. Manches ließe sich bemängeln: So die
Forderung nach Lohnsenkungen in den neuen Bundesländern, wo
außertarifliche Bruttolöhne zwischen drei und fünf
Euro längst keine Ausnahme mehr sind. Auch sein Festhalten an
der Besteuerung des Faktors Arbeit (statt der Produktivität)
ist eher konservativ. Und der Zerfall wichtiger Infrastrukturen
durch die Privatisierungswelle der 90er-Jahre kommt bei ihm gar
nicht vor.
Dennoch: Diese Arbeit von Hans-Werner Sinn ist didaktisch
hervorragend konzipiert, farbig und außerordentlich plastisch
geschrieben und für jeden Leser ein großer Gewinn, der
die wirtschaftliche Oberflächendiskussion satt hat und an
wirklichen Erkenntnissen interessiert ist.
Hans Werner Sinn
Ist Deutschland noch zu retten?
Econ Verlag, München 2003; 499 S., 25,- Euro
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