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Die"Strahlkraft" der Freiheit
Geschichte der Menschenrechte in
Deutschland
Folgen wir verkürztem Hand- und Schulbuchwissen, so
markiert die französische Erklärung der "Menschen- und
Bürgerrechte" von 1789 eine Epochenscheide von Alteuropa in
die Moderne. Deutschland sei diesen Weg einer
verfassungsmäßigen Verankerung der Menschenrechte - auch
hier als "verspätete Nation" und als Nachzügler
gegenüber dem Westen - erst relativ spät und
widerstrebend, eigentlich erst mit dem Grundgesetz von 1949,
gegangen.
Gegen derartige Klischees macht Peter Blickle, Historiker an der
Universität Bern und international anerkannter Fachmann
für die Frühe Neuzeit, in seinem profunden, ebenso
quellengesättigten wie anschaulichen Überblick des
Freiheitsdiskurses in Deutschland vom Hochmittelalter bis ins 19.
Jahrhundert gleich mehrfach Front. Er verfolgt aus der
quellenmäßigen Überlieferung im Heiligen
Römischen Reich mit seinen regionalen Ausdifferenzierungen
über fünf Jahrhunderte den langen und verschlungenen,
auch geographisch sehr unterschiedlichen Weg von der
mittelalterlichen "Eigenschaft" (im modernen wissenschaftlichen
Sprachgebrauch auch Grundherrschaft) über die Leibeigen- und
Untertanenschaft im frühneuzeitlichen Territorialstaat seit
dem 15. Jahrhundert bis in die Bauernbefreiung des 19. Jahrhunderts
- lange ein Forschungsdesiderat, das nunmehr überzeugend
realisiert ist.
Blickle legt, das Schlüsseljahr 1789 bewusst
überwölbend, die starken "Stränge von der
mittelalterlichen Eigenschaft zu den modernen Menschenrechten"
frei. Freiheit erscheint als leibhaftige Freiheit der Bauern mit
ihrem Verlangen nach Freizügigkeit, Ehefreiheit, freier
Verfügung über den Arbeitsertrag und die bewirtschaftete
Liegenschaft. Freiheit, Eigentum und politische
Partizipation/Bürgerrechte in einem - etwa im Gerichtswesen
oder in der kommunalen Selbstverwaltung - öffentlichen Raum
sind als Kern der Menschenrechte schon früh eng miteinander
verzahnt.
Es geht Blickle nicht um blutleere Ideen und Theorien, sondern
um die "Strahlkraft der Freiheit als erstrebenswerter
persönlicher Status", um eine realgeschichtliche
Rekonstruktion des Alltages der Menschen, ihres Bewusstseins, ihrer
existenziellen Sehnsüchte und Nöte, ihrer Normen und
Wertvorstellungen. Er arbeitet anschaulich die
"freiheitsfördernden Energien" in der Auflehnung gegen die
Leibeigenschaft durch Revolten, Flucht, Wegzug in die Stadt
("Stadtluft macht frei"), Heirat aus der "Genossenschaft" hinaus,
Prozesse oder Freikauf heraus und erklärt plausibel die
Leibeigenschaft durchgängig zu einer Wirtschaft und
Gesellschaft nachhaltig prägenden "Unruhe im Uhrwerk der
deutschen Geschichte".
Das Buch ist sehr übersichtlich in zwei Teile gegliedert:
An einen chronologischen Durchgang "von der mittelalterlichen
Leibeigenschaft zur modernen Freiheit" schließt sich ein
systematischer Teil über die "Kraft der Leibeigenschaft" an.
Besonders hervorzuheben ist hier das Unterkapitel über die
"Theoretisierung von Leibeigenschaft und Freiheit" durch Theologen,
Juristen und Philosophen.
Hier zeigt sich der lange belastende Schatten, den Luther und
der Protestantismus - ganz im Gegensatz zu Zwingli, Erasmus von
Rotterdam und Schappeler - durch ihre schroffe Ablehnung der
politischen und leiblichen Freiheit im Bauernkrieg von 1525 und die
Reduktion des Freiheitsbegriffes auf die Gewissensfreiheit eines
Christenmenschen auf die deutsche Geschichte und den deutschen Weg
in die Moderne geworfen haben.
Blickles Synthese aus Kultur-, Agrar-, Gesellschafts- und
politischer Geschichte, die immer wieder Vergleiche auf England und
Frankreich öffnet, dürfte künftig zu den
Standardwerken der deutschen Geschichtswissenschaft
gehören.
Peter Blickle
Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte
der Freiheit in Deutschland.
Verlag C.H.Beck, München 2003; 426 S., 36,90 Euro
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