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Karl-Heinz Hillmann
Jeder mixt sich seinen eigenen Cocktail
Wertwandel und "Konsumschwäche"
Die seit Jahren schleppende Konjunktur in
Deutschland wird geradezu gebetsmühlenartig mit einer
Nachfrage- beziehungsweise Konsumschwäche erklärt, die
dem heiß ersehnten wirtschaftlichen Aufschwung die notwendige
Antriebskraft entzieht. Die etwas tiefer liegende Ursache sei eine
Kaufzurückhaltung der Verbraucher, die durch
Massenarbeitslosigkeit, Arbeitsplatzverunsicherung, steigende
Abgabenbelastungen und durch eine unsicher gewordene
Altersversorgung genährt wird. Durch diesen einseitig
wirtschaftlich ausgeprägten Erklärungsversuch bleiben
wesentliche Ursachen und Zusammenhänge, die der
Konsumschwäche maßgeblich zugrunde liegen,
unberücksichtigt.
Eine besonders einflussstarke Ursache
für die Konsumschwäche ist der gegenwärtig
beschleunigte Wertwandel. Warum?
Weil das Verhalten der Menschen nicht durch
eine angeborene, unveränderbare Antriebsstruktur von
Instinkten, Trieben und Bedürfnissen gesteuert wird. Im Falle
einer Instinktgebundenheit wären die Menschen auf wenige
Verhaltensweisen festgelegt. Sie würden sich alle nahezu
gleichartig verhalten. Der Mensch verfügt aber nur noch
über einige Instinktreste, die keineswegs für eine
überlebenstaugliche Verhaltenssteuerung ausreichen. Die somit
bestehende große Lücke im Antriebsleben wird grundlegend
durch das Lernen von Werten geschlossen, die sich im Verlaufe der
Geschichte in den einzelnen Kulturen und Gesellschaften
herausgebildet haben. Werte sind mit Gefühlen und
Antriebskräften verbundene Vorstellungen über allgemeine
Ziele, Orientierungsleitlinien und Maßstäbe. Werte sind
um so stabiler, je mehr sie als absolut und selbstverständlich
gelten und von den Gesellschaftsangehörigen verinnerlicht
worden sind. Werte werden dann gleichsam unterbewusst und
automatisch befolgt.
"Stille Revolution"
Nun leben wir heute in einer Zeit der
beschleunigten sozialen und kulturellen Veränderungen, die
einen entsprechend raschen Wertwandel beinhalten. Nach Auffassung
des amerikanischen Wertwandelforschers Ronald Inglehart hat sich
vor allem in hoch entwickelten Gesellschaften seit den
1960er-Jahren eine "stille Revolution" vollzogen: Getragen von
nachwachsenden Generationen, die im Wohlstand aufgewachsen sind,
hat sich eine Werteverschiebung ergeben, und zwar von den
"materialistischen" zu den "postmaterialistischen Werten".
Demzufolge sind Werte wie individuelle Selbstverwirklichung,
Toleranz, Mitbestimmung und Lebensqualität aufgewertet worden.
In ähnlicher Weise hat in Deutschland der Soziologe Helmut
Klages einen "Wertwandlungsschub" festgestellt, der sich zwischen
1965 und 1975 abgespielt hat: Während überkommene
"Pflicht- und Akzeptanzwerte" wie Disziplin, Gehorsam,
Pflichterfüllung und Bescheidenheit eine gewisse
Abschwächung erfahren haben, vollzog sich eine Aufwertung und
Ausbreitung von "Selbstentfaltungswerten" wie Emanzipation,
Ungebundenheit, Selbstverwirklichung und Partizipation.
Diese beiden bekannt gewordenen
Forschungskonzepte beschränken sich aber nur auf Ausschnitte
aus der Wertevielfalt und können nicht erklären, warum
sich Anzeichen für einen folgenreichen Werteverfall mehren.
Dieses Problem einer Werteverunsicherung oder gar eines -verfalls
vergrößert sich nämlich mit der fortschreitenden
Auflösung des bisherigen
Selbstverständlichkeitscharakters von Werten - insbesondere
durch die Intellektualisierung unserer Lebenswelt.
Da gelernte Werte grundlegend, allgemein und
zentral unser Verhalten beeinflussen, ja weitgehend bestimmen,
übt der Wertwandel sogar einen starken Einfluss auf das
Verbraucherverhalten aus, und zwar direkt und auch indirekt: Im
Zuge des Wertwandels der letzten Jahrzehnte sind individualistische
Wertorientierungen immer mehr aufgewertet und verhaltenswirksam
geworden. Demgemäß beanspruchen immer mehr Menschen
möglichst viel persönliche Freiheit, Ungebundenheit,
Selbstbestimmung und -entfaltung. Schließlich wollen sich
Individualisten nicht mehr durch ein übergestülptes
Wertsystem kommandieren lassen, sondern eigenständig für
sich selber einen "Wertecocktail" schaffen. Infolge der enormen
Aufwertung individualistischer Wertorientierungen ist dann der
Einzelne auch als Verbraucher und Käufer selbstbewusster,
kritischer, autonomer, wählerischer, unberechenbarer und
weitaus weniger manipulierbar - wenn überhaupt. Er ist
zunehmend "allergisch" gegenüber verführerischer Werbung
und (vermeintlichen) Konsumzwängen. Die gesteigerte
Wertschätzung einer unkonventionellen oder gar
nonkonformistischen Lebensgestaltung macht den Individualisten
immun gegenüber dem Bestreben, Sozialprestige durch einen
aufwändigen statusorientierten Luxuskonsum gewinnen zu
müssen. Statt eines "dicken Mercedes" reicht ihm zum Beispiel
ein gebrauchter "Golf". Strapazierfähige Jeansbekleidung
lässt ihn auf teure modische "Klamotten" verzichten.
"Güterarmer" Freizeitgenuss ist ihm wichtiger als der Kauf und
die Demonstration kostspieliger Luxusgüter. Die Ausbreitung
werbe- und konsumkritischer Individualisten trägt erheblich
zur Ausprägung einer wachstumshemmenden Nachfrageschwäche
bei.
Infolge des Eintretens der
naturzerstörerischen Umweltkrise in die öffentliche
Diskussion sind ökologische Wertorientierungen - die zugleich
neue Werte bilden - stark aufgewertet und zum Teil auch
verhaltenswirksam geworden. Vor allem bei ökologisch
engagierten Personenkreisen führten diese Wertorientierungen
zu erheblichen Veränderungen des Kauf- und Konsumverhaltens:
Verzicht auf Güter mit geringem Grundnutzen,
Konsumeinschränkungen, möglichst lange Nutzung von
Gütern, verstärkter Kauf von Secondhand-Produkten, Abwehr
von Werbung und Verschwendungskonsum. So ist auch bemerkenswert,
dass das Internetauktionsunternehmen Ebay Inc.
Umsätze und Gewinne gewaltig steigern
konnte. Dieser Steigerung liegen allerdings auch die Renaissance
der Sparsamkeit und die Wiederkehr des Mangels zugrunde.
Als Beispiel für eine sehr
einflussstarke indirekte Auswirkung des Wertwandels auf die
Nachfrage und den Konsum kann die katastrophale demografische
Entwicklung in Deutschland und vergleichbaren Gesellschaften
aufgetischt werden: Die geradezu revolutionär starke
Aufwertung von individualistischen und hedonistischen
Wertorientierungen, also von persönlicher Freiheit,
Unabhängigkeit und Karriere, von Freizeit, Luxus,
Bequemlichkeit und Lebensgenuss hat wesentlich zum
übermäßigen Absacken der Geburtenrate beigetragen.
Nun fehlen in der nachrückenden Generation pro Jahrgang
mindestens 300.000 junge Erwachsene, die seit dem "Einbruch" der
Geburtenrate um 1970 herum nicht geboren worden sind. Demzufolge
haben wir viel zu wenige junge Menschen, die Familien und Haushalte
begründen würden, die nachfragewillige Käufer
für Möbel, Lampen, Küchengeräte,
Kochtöpfe, Geschirr, Bettwäsche, Teppiche, Gardinen,
Babyausstattung, Spielzeug wären. Stattdessen wachsen auf
Seiten der Verbraucher immer mehr die Anteile der älteren und
alten Menschen, die vor dem Problem der vollgestopften Eigenheime
und Wohnungen stehen - eine bisher verkannte Konsumschranke. Sie
unterliegen eher den emotional belastenden Anstrengungen des
Aufräumens, Aussortierens und Wegwerfens. Für
stärkere Nachfrage sorgen sie im Hinblick auf Medikamente,
Gesundheitsartikel und medizinische Dienstleistungen. Viele haben
schon keine Nachkommen mehr, die sie gerne finanziell
unterstützen würden - vor allem dann, wenn Enkel den
Senioren eine neue Sinnerfüllung bieten
könnten.
Verlagerung von Kaufkraft ins
Ausland
Hinzu kommt: Viele wohlhabende ältere
und alte Deutsche leben in anderen Ländern oder verbringen
dort zumindest längere Zeitabschnitte - mit einer
entsprechenden Verlagerung von Kaufkraft in das Ausland. Es bleibt
noch empirisch zu untersuchen, inwieweit Einwanderer einen
Ausgleich schaffen können - zumal sie überwiegend aus
armen Gesellschaften stammen und großenteils durch
unzureichende berufliche Qualifikation nur relativ geringe
(Transfer-)Einkommen erzielen. Überdies wird von diesen
Einkünften auch noch ein erheblicher Teil in die
Herkunftsländer der Migranten überwiesen.
Abschließend kann nur kurz bemerkt
werden: Langfristig werden allein schon ökologische Grenzen
eine Konsumausweitung als Wachstumsmotor einschränken. Soll
eine sich zunehmend beschleunigende Schrumpfung der Nachfrage und
des Konsums verhindert werden, dann muss möglichst schnell
eine Familien- und Gesellschaftspolitik aufgewertet und auch
tatsächlich betrieben werden, die auf eine bestandssichernde
Geburtenrate ausgerichtet ist.
Prof. Dr. Dr. Karl-Heinz-Hillmann lehrt an
der Universität Würzburg Soziologie und ist Autor des
Buches "Wertwandel", Carolus Verlag Würzburg 2003.
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