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Oliver Heilwagen
Ansprüche auf schnelle Befriedigung wachsen
- jetzt haben, später zahlen
Die Konsumgesellschaft frisst ihre
Kinder
Die Konsumgesellschaft ist paradox: Je mehr Wohlstand und
Lebenserwartung steigen, desto schlechter geht es uns. Wir essen zu
viel, bewegen uns zu wenig und sehen zu viel fern. Deswegen wird
unser historisch einmaliges Konsumniveau für zahlreiche
Probleme verantwortlich gemacht. Lehrer beklagen, ihre Schüler
könnten sich kaum noch konzentrieren. Arbeitgeber
bemängeln, das Vorwissen von Auszubildenden nehme rapide ab.
Und Kulturpessimisten sehen überall Zeichen des Niedergangs:
Vereinzelung, Verwahrlosung und zunehmende Kriminalität. Da
liegt die Frage nahe, ob die Konsumgesellschaft ihre Kinder
frisst.
Nun ist die Kritik am Konsum so alt wie er selbst. Sobald
Menschen mehr verbrauchen, als zur Selbsterhaltung nötig ist,
treten zugleich Warner auf, die zur Umkehr mahnen. Das war schon in
der ersten Gesellschaftsordnung so, die breiten Kreisen ein Dasein
über dem Existenzminimum erlaubte: Dem römischen
Imperium. Die spätantike Literatur strotzt vor moralischen
Traktaten, die den Sittenverfall geißelten und die
Rückkehr zu den asketischen Idealen der Vorfahren empfahlen.
Genützt hat es nichts: Anstatt die Mühen des
Militärdiensts auf sich zu nehmen, heuerten die Römer der
Kaiserzeit lieber ausländische Söldner an, um
ungestört das Leben genießen zu können.
Von Cato über Savonarola und Robespierre bis zu Goebbels,
der die Deutschen zu Eintopfsonntagen verdonnerte, haben
Bußprediger ihre Völker zum Verzicht angehalten - stets
vergebens. Die Ökonomen haben daher die Unfähigkeit, sich
mit Wenigem zu begnügen, zur Basis ihrer Theorien gemacht. Sie
lehren ausnahmslos, dass die materiellen Wünsche des Menschen
prinzipiell unendlich sind. Das macht die Steigerung der Produktion
erst möglich: In einer Subsistenzwirtschaft, in der jeder sich
mit dem bescheidet, was er selbst erzeugt, gibt es kein
Wachstum.
Zwar explodierte die wirtschaftliche Dynamik mit der
Industrialisierung, doch von der Konsumgesellschaft ist erst seit
dem Zweiten Weltkrieg die Rede: Ludwig Erhards Parole "Wohlstand
für alle!" wurde zur politischen Maxime des Westens. Der
entscheidende Impuls ging von den USA aus. Franklin D. Roosevelt
zeigte mit seinem "New Deal", dass der Staat mit gesellschaftlicher
Umverteilung und Investitionen Wirtschaftsleistung und
Lebensqualität erhöhen kann: Der Wohlfahrtsstaat
entstand. Mit der Amerikanisierung der Welt trat auch die
Konsumgesellschaft ihren Siegeszug an. Ihre Attraktivität ist
bis heute ungebrochen.
Skeptiker taten sie anfangs als "Wegwerfgesellschaft" ab. Seit
sich das Konzept des Recyclings durchgesetzt hat, spricht man von
"Überflussgesellschaft". Dahinter steckt nicht nur die
Überzeugung, dass keiner die angebotene Fülle von
Gütern wirklich braucht. Der Begriff enthält auch den
Verdacht, dass schrankenloser Konsum den Menschen seelisch
verkümmern lässt.
Der Mensch ist ein Mängelwesen, stellte Arnold Gehlen vor
einem halben Jahrhundert fest: Alles, was er herstellt, soll dieses
Defizit ausgleichen. Dabei geht die Erweiterung des Aktionsradius'
mit körperlicher Entlastung einher. Die Maschine ersetzt die
Handarbeit. Fernsehen gestattet dem Zuschauer, Augenzeuge des
gezeigten Geschehens zu sein, ohne sich von der Stelle zu bewegen.
Allerdings wird das TV-Gerät seltener zur Information als zur
Unterhaltung genutzt. Ähnliches gilt für die meisten
Konsumgüter. Viele Autofahrten sind nicht notwendig, viele
Computer werden nur zum Spielen angeschafft. Der Medienexperte Neil
Postman kritisierte dies vor 20 Jahren mit der griffigen Formel:
Wir amüsieren uns zu Tode.
Manche Psychologen sehen darin den Grund, warum vielen die
Reifung zum Erwachsenen misslingt, sodass sie emotional auf dem
Stand von Kindern
stecken bleiben. So behauptet der psychoanalytische Publizist
Wolfgang Schmidbauer in seinem Buch "Jetzt haben, später
zahlen", die zur Bewältigung des Lebens nötige Disziplin
weiche allmählich kollektiver Regression. Er beobachtet bei
seinen Patienten wachsende Ansprüche auf schnelle
Befriedigung. Bleibe sie aus, könnten die Betroffenen mit
Enttäuschungen immer schlechter umgehen: Ihre
"Frustrationstoleranz" nehme ab. Anstatt sich jetzt anzustrengen,
um später das Gewünschte zu erhalten, griffen sie zu
unakzeptablen Mitteln: Die "Renaissance der Rache" mache das
staatliche Gewaltmonopol wieder zunichte.
Laut Schmidbauer ist die Werbung daran schuld. Sie gaukle den
Verbrauchern Genuss ohne Reue vor, ohne sie an die Kosten und
Folgelasten ihres Konsums zu erinnern. Derart konditioniert,
bildeten sie eine "Zapping-Mentalität" aus: Negatives werde
ausgeblendet oder ignoriert, wie ein TV-Programm bei Nichtgefallen
ausgeschaltet wird. Schmidbauer zögert nicht, einen
"Faschismus der Waren" anzuprangern: "Das Prinzip, immer mehr vom
?Guten' selbst zu besitzen und alles ?Schlechte' nach außen zu
verlegen, bestimmt die Konsumgesellschaft ebenso wie den
Faschismus." Leidtragende dieses Gruppenegoismus' seien nicht nur
die ausgebeuteten Massen der Dritten Welt, sondern zunehmend auch
die Egoisten selbst.
Man kann diese Phänomene indes ganz anders bewerten.
Systemtheoretiker fassen unsere Gesellschaft als Konglomerat von
Kreisläufen auf, in denen der Einzelne als Handelnder
unwichtig wird. Nach diesem Modell differenzieren sich die sozialen
Teilbereiche immer stärker aus und folgen dabei allein ihrer
Binnenlogik. In der Wirtschaft geht es ausschließlich um die
Zirkulation des Geldes: Es ist egal, was produziert wird, solange
es bezahlt wird und die Erlöse wieder reinvestiert werden.
"Geld hat den einzigen Sinn, ausgegeben zu werden, weil es keinen
eigenen Wert hat", betont der Philosoph Norbert Bolz. Anstatt die
Besitzgier als Tanz ums goldene Kalb zu verdammen, preist er sie
daher als Kitt, der die Gesellschaft im Innersten
zusammenhält.
"Das konsumistische Manifest" heißt ironisch seine
Streitschrift gegen Verzichtsethiker jeder Couleur. Die Anspielung
auf das kommunistische Manifest von Marx und Engels hat einen
Doppelsinn: Deren Prophezeiung sei eingetroffen, aber ohne das ihr
innewohnende Glücksversprechen zu erfüllen. Die
Monetarisierung menschlicher Beziehungen auf dem Markt sei eine
wertvolle zivilisatorische Errungenschaft, versichert Bolz: "Was
die guten Seelen der modernen Geldwirtschaft vorwerfen, ist ihre
eigentliche Kulturleistung. Geld entlastet die Gesellschaft von
Menschlichkeiten wie Hass und Gewalt. Wo Geld die Welt regiert,
bleibt uns der Terror von nackter Faust und guter Gesinnung
erspart."
Der Theoretiker geht so weit, den Finanzen eine quasi
religiöse Funktion zuzusprechen: "Das Streben nach mehr Geld
ermöglicht eine stabile Letztorientierung des Lebens, die auf
?authentische' Motive verzichten kann." Das ist nicht zynisch
gemeint, sondern tröstend. Nachdem alle Ideologien und Utopien
entwertet seien, so Bolz, könne nur noch der Konsumismus als
ewiges Wechselspiel der Moden und Marken den sozialen Zusammenhalt
gewährleisten. Aus dieser Perspektive ist Reklame keine
verlogene Propaganda, sondern formuliert das Selbstverständnis
der Gesellschaft: "Die Werbung produziert heute die Symbole, die
das Soziale strukturieren. Sie entwickelt graphische Embleme, die
sich in der Phantasie der Kunden ablagern und mit denen sie ihre
Welt konstruieren."
Diese "Verzeitlichung der Wertorientierung" sei die angemessene
Reaktion auf eine sich beschleunigende Lebenswelt: "Die Menschen
entwickeln eine höhere Anpassungsfähigkeit an
zukünftige Konstellationen." Allerdings leugnet der Philosoph
nicht, dass viele von steigenden Anforderungen an ihre
Flexibilität überfordert sind. Nur beeinträchtige
das nicht die soziale Leistungsfähigkeit insgesamt: "Die
Systeme haben längst die Akteure überholt. Dummheit und
Fachwissen wachsen gleichzeitig wahnsinnig an."
Die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft", die der Soziologe
Helmut Schelsky vor vier Jahrzehnten konstatierte, spalte sich in
eine bestens informierte und hocheffiziente Minderheit und eine
unproduktive Mehrheit, die ertragen müsse, den Anschluss zu
verlieren. Ob ihr das gelingt, sei für das Ganze unerheblich,
hält Bolz nüchtern fest: "Unsere Gesellschaft
funktioniert prächtig mit lauter unglücklichen
Individuen."
Oliver Heilwagen ist freier Journalist.
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