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Robert von Rimscha
Eine perfekte Welt ohne Sünde
Amerika und seine Eiferer
Die Geschundenen und Entrechteten, die
Mühseligen und Beladenen dieser Welt mögen nach Amerika
kommen. So steht es auf dem Fuß der Freiheitsstatue vor
Manhattan. So verstanden sich die USA stets. Als offenes Land, als
bessere Alternative zu allem, was alt ist. Und nun? Nun bewerben
sich 40 Prozent weniger Chinesen für die Zulassung an der
Harvard-Universität. Nun verfünffachen sich die
Wartezeiten für Aufenthaltsgenehmigungen hochqualifizierter
Ausländer, weil die Einwanderungsbehörde INS
Sicherheitsüberprüfungen durchführen muss, statt
Dokumente auszustellen. Nun entsteht der Eindruck, die USA
entwickelten sich zur abgeschotteten Festung.
Dass das Land mit harten Maßnahmen auf
den Terror vom 11. September reagiert, ist nur zu
verständlich. Fatal aber ist, dass das Bild Amerikas zunehmend
von einem Dreiklang bestimmt wird: Krieg gegen die Feinde,
Abschottung gegen Fremdes, Rückständiges im Innern. Denn
die USA erscheinen als ein Land, das auch und gerade im heimischen
Alltag den Triumph der Vor-Aufklärung zulässt. Ein
wiedergeborener, evangelikaler Christ sitzt im Weißen Haus.
Europäisches "refinement", verkörpert zuallererst durch
alles Französische, ist vielen suspekt oder gar zuwider
(selbst Nicholas Burns, US-Botschafter bei der NATO, geißelt
die "Dämonisierung Frankreichs"). Popstars predigen sexuelle
Abstinenz. Das New Yorker Nachtleben wird systematisch
ausgetrock-net. Rauchen wird selbst am Strand von Santa Monica
verboten. Wochenlang wird über die entblößte Brust
von Janet Jackson beim Football-Finale diskutiert.
Das Prüde und Puritanische scheint auf
dem Vormarsch. Das Agrarisch-Vorindustrielle,
Anti-Zivilisatorische, Anti-Intellektuelle, ja manchmal
Anti-Kulturelle, das immer einen machtvollen Strang in Amerikas
Ideen- und Alltagsgeschichte ausmachte, scheint auf dem Vormarsch
zu sein. Und komplettiert im Innern jenes Bild der USA, das nach
außen ohnedies das Landes-Image prägt: Klappe zu, Laden
dicht, Schluss mit der Offenheit.
Oder ist dies nur eine zyklische Bewegung,
der Höhepunkt des Kulturkampfes gegen die Laissez-faire-Werte
der 68er-Generation und ihrer politischen Symbolfigur Bill Clinton?
Es lohnt sich, über den Ex-Präsidenten nachzudenken, der
im zelotischen Amerika weder über angeblich nicht inhalierte
weiche Drogen noch über fraglos konsumierte Sex-Stündchen
mit Monica Lewinsky im Oval Office, dem berühmtesten
Arbeitsplatz der Welt, stürzte. "So viel Talent - wozu?" Diese
Frage rief George W. Bush im August 2000 beim Wahlparteitag, der
"Convention", seinen Republikanern zu. Er sprach über Clinton.
Er verlangte die Einbettung einer Generation, der seinigen, die
auch Clintons ist, in einen verbindlichen amerikanischen
Wertekanon.
Bushs eigene Töchter bieten gutes
Anschauungsmaterial, wenn man dem Anfangsverdacht der Bigotterie
nachgehen will. Im Sommer 2001 in Texas waren die Zwillinge des
Präsidenten wegen unerlaubten Alkoholkonsums als
Minderjährige ins Visier der Strafverfolger geraten. Jenna
Bush, damals eine 19-jährige Studentin an der University of
Texas, und ihre Schwester Barbara Bush, Erstsemester in Yale,
hatten sich in Bars entlang der Ausgehmeile "Sixth Street" in
Austin mit gefälschten Ausweispapieren Zutritt verschafft und
Alkohol getrunken. Nach texanischem Recht ist dies eine
Ordnungswidrigkeit der untersten Stufe, ein "class C misdemeanor".
Die Bush-Töchter wurden von einem Gericht zu acht Stunden
gemeinnütziger Arbeit und sechs Stunden Anti-Alkohol-Schulung
verurteilt. Sie hatten lediglich Bier getrunken. Und die
Zivilstreife, die sie festnahm, gab zu Protokoll, Jenna und Barbara
hätten nicht betrunken gewirkt.
Amerikas rigide Alkoholgesetze werden strikt
angewandt. Die Jagd auf "minors", auf Minderjährige in Bars,
gehört zum festen Polizeiritual vor allem an Wochenenden und
in Collegestädten. Als Jugendlicher in Amerika nicht mit dem
Gesetz in Konflikt zu geraten, ist zwar möglich. Vielen
gelingt dies aber nicht. Der Besitz von gefälschten
Führerscheinen als Ausweispapieren, den so genannten "fake
IDs", gilt beinahe als Kavaliersdelikt. Von daher taten die
Töchter von George W. Bush nichts wirklich
Ungewöhnliches. Ihr berühmter Name sorgte für
Medienaufmerksamkeit und Spott. Die Erinnerung an die eher
berauschte denn berauschende Vergangenheit des Präsidenten
wurde wach. Aber das war es dann auch. Amerikas Gesellschaft ist
gern bereit, ihrer Jugend das gelegentliche Übertreten der
Alkoholgesetze zu vergeben, wenn denn der Anschein von
Schuldbewusstsein geweckt wird.
Anders ist es bei harten Drogen, und ganz
anders ist es bei nicht mehr jungen Erwachsenen. Seit
dem
20. August 1999, einem Freitag, brauchte
Amerika einen Rechenschieber, um des damaligen
Präsidentschaftskandidaten höchst eigene Sünden zu
datieren. Koks oder nicht Koks, das war längst nicht mehr der
Punkt. Mittlerweile fragte man sich, wann George W. Bush zuletzt
harte Drogen genossen hatte. Der amerikanischen Presse war endlich
eine Formulierung eingefallen, der sich der Kandidat schwerlich
entziehen konnte. Würde Bush Präsident der USA, wäre
er der Dienstherr von Tausenden, die auf dem Personalbogen die
Frage beantworten müssen, ob sie in den letzten sieben Jahren
Drogen genommen haben. "Ich könnte diese Frage sehr wohl
beantworten, und die Antwort hieße nein", sagte Bush. Tags
drauf weitete Kandidat Bush die Phase, seit der er clean ist, um
ein gutes Jahrzehnt aus. Nicht nur die Personenprüfung im
gegenwärtigen Bundesdienst, auch die viel härtere zu
seines Vaters Zeiten hätte er bestanden, bekundete Bush
sichtlich genervt. Hier nun setzte der Rechenschieber an. Der
ältere Bush hatte 1989 seine Arbeit im Weißen Haus
aufgenommen. Die Anforderung für Spitzenjobs in der Verwaltung
damals: 15 Jahre drogenfrei. Macht: 1974. Bush war 28.
In Amerikas Politik hat Privates einen
anderen Stellenwert als in Europa. Kurioserweise erfüllen die
USA damit ein Diktum der deutschen Linken, dass nämlich das
Private stets öffentlich sei. Amerika sieht sich dabei
natürlich nicht 68 verpflichtet, sondern einem Idealbild des
Menschen, das Führungsfähigkeit aus der individuellen
Biografie und deren Vollkommenheit als Abwesenheit von - typisch
europäischer - Dekadenz definiert. So war es George W. Bush
selbst, der 2000 berichtete, er sei seiner Gattin Laura in 22
Ehejahren nie untreu gewesen. Seine acht innerparteilichen
Gegenkandidaten gaben alle zu Protokoll, niemals illegale Drogen
genommen zu haben. Hätte Bush sich als Ex-Kokser geoutet,
wäre seine politische Welt noch lange nicht zusammengebrochen.
Nur 13 Prozent der US-Bürger glaubten damals laut Umfrage,
Drogenkonsum als Twen sollte das Weiße Haus auf ewig
versperren. 87 Prozent zeigten sich vergebungsbereit. Bush war so
kurioserweise ein Profiteur jener gesellschaftlichen Langmut
geworden, die als "Clinton-Absolution" ins Politikvokabular
einging. Dass indes der Einzelne, will er Politiker werden, sich in
einem in Europa noch immer unbekannten Maße der
Öffentlichkeit öffnen muss, das ist ein Axiom der
US-Gesellschaft. Offengelegte Steuererklärungen sind da nur
der Anfang.
Das Puritanische an Amerika ist trotz dieser
allgegenwärtigen Suche nach Reinheit und Perfektion mehr
Wunsch als Wirklichkeit. Die US-Gesellschaft hat ein idealisiertes
Selbstbild von sich und fordert dieses auch ein. Nicht als
Realität, sondern als Orientierungsmarke. Dass im Kabel-Sender
HBO bei der auch in Deutschland beliebten Serie "Sex and the City"
im Minutentakt nackte Brüste und derbste Ausdrücke
vorkommen, stört niemanden. Denn HBO abonniert man. Man zahlt
- für privilegierten Zugang zu nicht Jugendfreiem. Janet
Jacksons Brust dagegen flimmerte über die "networks", die frei
empfangbaren drei TV-Hauptsender. Der Aufruhr war also einer, der
nur vor sehr spezifischen Eigentümlichkeiten der US-Medienwelt
und Fernsehnutzung verständlich wird.
Je uneinheitlicher Amerikas Realität
wird, je mehr Moral eine Frage der privaten Entscheidung wird, je
heftiger die Schlacht um die Zulassung der Homo-Ehe wird, umso
stärker wird im Gegenzug die Sehnsucht nach Verbindlichkeit.
Dieser kompensatorische Reflex ist die zentrale Motivation, wenn in
Wahlkämpfen amerikanischer Politiker aller Parteien im uns so
fremdartigen Prediger-Ton nach Sauberkeit und Klarheit gerufen
wird. Die sieben Sekunden Zeitverzögerung, die nun bei
Live-Veranstaltungen dafür sorgen sollen, dass keine weitere
Brustenthüllung durch den Äther flimmert, sind ein
weiterer Hinweis auf diesen Umstand. Die gefilterte Realität,
die sich Amerika in Reinform wünscht, ist eben nicht
Realität. Sie ist Traum. Sie ist kulturell gemacht. Aber eben
ein Traum, aus dem aufzuwachen sich Amerika weigert. Im Wissen,
dass alles nur ein Traum ist - aber eben ein schöner.
Nämlich der von einer perfekten Welt ohne
Sünde.
Diese allgegenwärtige Suche nach einem
utopischen Selbst prägt Amerika in fast jedem Winkel. Und
sorgt in Europa für kopfschüttelndes Befremden. Hier
dürfte die tiefste kulturelle Unvereinbarkeit zwischen der
naiv-idealistischen Neuen Welt und der abgeklärt-larmoyanten
Alten Welt liegen. Risiken bergen beide Sichten. Amerika produziert
Eiferer. Europa schafft Apathie.
Robert von Rimscha leitet die
Parlamentsredaktion des "Tagesspiegel", war lange
Amerika-Korrespondent und ist Autor von Büchern über die
"Kennedys" und die "Bushs".
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