|
|
Roger Boyes
Der Westen verliert seinen Sinn für
westliche Werte
Das Ende des Sonderwegs: Was unterscheidet die
Deutschen von anderen Europäern?
Es gehört zur Routine eines Auslandskorrespondenten,
alljährlich einen Abstecher zur Heimatredaktion zu
unternehmen, um mit dem Chef die weitere Karriereplanung zu
besprechen. Je älter ich werde, desto kürzer werden diese
Gespräche. Immerhin verschafft mir der knappe Austausch - in
welchem ich dem Chefredakteur kurz meinen Namen ins Gedächtnis
rufe - zunehmend Gelegenheit, an diversen Dinnerpartys im feschen
London teilzunehmen. Dort gibt es nur ein Thema - nicht den Irak
oder den Niedergang Tony Blairs, sondern Immobilienpreise.
An dem Wert eines Hauses in England bemisst sich das Glück.
Ein Eigenheim mit steigendem Wert symbolisiert für den
gewöhnlichen Briten eine besondere Art des Erfolges. In einer
nach wie vor von der gesellschaftlichen Klasse verkrusteten Nation
beweist dies, dass der Hausbesitzer ein cleverer Investor ist. Die
Investition gibt ihm Alterssicherheit, Zuversicht und ein
Gesprächsthema, während er sich am Büfett über
das Boeuf Bourguignon beugt. Natürlich ist das Glück eine
relative Größe. Eine Studie der Universität Illinois
unter 49 der vom Forbes-Magazine ermittelten 100 reichsten
Amerikaner, ergab, dass sie nur unwesentlich glücklicher sind
als der Durchschnitt.
Die Freude darüber, in einem Haus zu leben, welches den
eigenen Reichtum nährt, währt nur so lange, wie dieser
Reichtum den des Nachbarn übertrifft. Hausbesitz - auf der
britischen Werte-Skala an dritter Stelle, nach Gesundheit und einer
erfolgreichen Partnerschaft - avanciert zum Fetisch. In deutschen
Supermärkten kauft man an der Kasse Magazine über
Käsetorte; in England kauft man Magazine, in denen es um das
Design von Wintergärten und Dachböden geht. Ich denke -
ich weiß - mir ist die Käsetorte lieber.
Häuser sind ein Barometer des Wandels. Thomas Manns
Buddenbrooks haben gezeigt, wie Werte im Laufe mehrerer
Generationen verkommen oder sich entwickeln; Häuser
überleben die Menschen in der Regel und sind somit in einer
Zeit des globalen Aufruhrs Sinnbilder für Stabilität und
Sicherheit. Kein Wunder also, dass die Engländer kürzlich
unter großem Entsetzen eine nationale Debatte führten,
angesichts der Tatsache, dass die Kosten für ein Kind von der
Geburt bis zum Universitätsabschluss heute 164.000 britische
Pfund betragen. Der Betrag entspricht etwa dem Preis eines
Zweizimmer-Hauses in England. Was hätten Sie also gern: Ein
Kind oder ein Haus? Ein Kind, das den Eltern eine lebenslange
Verantwortung auferlegt und die berufliche Entscheidungsfreiheit
begrenzt, oder ein Haus, das seinem Besitzer Reichtum beschert und
den Weg in die Bourgeoisie ebnet? Häuser nehmen keine Drogen,
ihnen wird nicht auf Autofahrten schlecht; man kann sie verkaufen,
wenn sie einem langweilig werden. Für den Preis, den es
kostet, zwei Kinder großzuziehen, kann man im schönsten
Teil Schottlands eine Farm kaufen oder eine große Villa in
Spanien mit einem Swimming-Pool in olympischen Maßstäben.
Dieser Wettbewerb zwischen materiellen und geistigen Werten klingt
lächerlich, aber es ist tatsächlich der Treibstoff, der
in England eine intellektuelle Debatte entzündete.
Die finanzielle Logik, keine Kinder zu haben, hat den
natürlichen Drang zur Elternschaft überrumpelt.
"Betrachte das Ganze mal anders", sagt mein 51 Jahre alter Freund,
der Journalist Simon Freeman, "der normale gesellschaftliche
Werdegang in London sieht heute so aus: Mit Anfang 20 kaufst du
eine kleine Wohnung, denn kaufen ist billiger als mieten. Dann
triffst du die Frau deiner Träume, ihr teilt eure Einkommen
und kauft gemeinsam ein größeres Haus. Du fühlst
dich reich, frei und individuell. Sobald das erste Kind kommt, geht
es bergab. Ihr zieht in eine Gegend, in der es eine gute Schule
gibt - mit wesentlich höheren Grundstückspreisen. Euer
großes Haus wird also für ein kleines eingetauscht. Das
heranwachsende Kind stellt Ansprüche an das, was du zuvor frei
verwalten konntest, Raum, Zeit und Geld. Die Beziehung leidet.
Möglicherweise endet ihr vor dem Scheidungsrichter. Ihr teilt
das Kind, das Haus: am Ende bist du ärmer und
unglücklicher, weil du die falsche Wahl getroffen hast."
Freeman ist ein geschiedener Vater.
Ich bin froh, berichten zu dürfen, dass die Deutschen von
dem britischen Haus-Fetisch noch nicht erfasst wurden. Sie zeigen
sich jedoch angesichts konkurrierender Werte ebenfalls verwirrt.
Der Roman "Durst" behandelt die wahre Geschichte einer jungen
Mutter, die ihre Kinder dem Hungertod überlassen hat,
während sie selbst in den Urlaub gefahren ist. Dieses
furchtbare Drama ist Gott sei Dank eine Anomalie. In zugespitzter
Form zeigt es aber, wie weit die Obsession mit der
persönlichen Freiheit führen kann: die Freiheit zu
entspannen, die Freiheit, Geld für Klamotten auszugeben,
wechselnde Partner zu haben; all dies sind sekundäre Werte.
Doch in einer Gesellschaft, die auf bestem Wege ist, ihren
moralischen Kompass zu verlieren, tendieren sie dazu, den Blick auf
das Wesentliche zu versperren. Das westliche Paradox ist das
Folgende: Einerseits wird das Kind zum Konsumenten erzogen,
frühzeitig sexualisiert und kommerzialisiert, ein
Interesseobjekt für Schuh- und Jeanshersteller, für die
Musikindustrie, für Videospiel-Produzenten und
Telefongesellschaften. Andererseits ist das Kind ein
Störfaktor, eine Unannehmlichkeit in einer Welt, die das
Angenehme zur Priorität erhoben hat. "Kinder machen dich
langsamer", erzählt mir eine Hamburgerin um die 30. Klar tun
sie das: Aber eine Gesellschaft, die sich in unterschiedlichen
Schritttempi bewegt, ist die einzige, in der es sich zu leben
lohnt. Langsam ist gut. Die Urbanisierung hat in Deutschland die
Sicht auf die Welt verzerrt - selbst die deutschen Bauernhöfe
sehen heute aus wie Fabriken. Um wertvoll zu sein, muss ein Mann
beziehungsweise eine Frau schneller sein als der eigene Schatten.
Angelsächsische Arbeitsgewohnheiten - Entscheidungsfindung von
Sonnenauf- bis Sonnenuntergang - schleichen sich ein. Der uralte
Rhythmus der bäuerlichen Dorfgemeinschaften gerät in
Vergessenheit; die Menschen bemerken kaum den Wandel der
Jahreszeiten. Ungewöhnlich viele Kinder werden in den Monaten
Juli und August gezeugt. Warum? Ich wette, die Deutschen erinnern
sich während ihrer Reisen in die Toskana oder nach Andalusien
an ihre Sexualität und an ihren Kinderwunsch; die Langsamkeit
ist verführerisch. In der Zwischenzeit scheinen sich die
Deutschen mit ihren Hunden zu begnügen. Nicht einmal unter den
Engländern, die für ihre obsessive Hundeleidenschaft
bekannt sind, habe ich eine so deutliche gesellschaftliche
Bevorzugung von Hunden gegenüber Kindern erlebt. Es gibt
Hunde-Supermärkte - der in der Berliner Forckenbecker
Straße führt Wasserbettten und sexy Unterwäsche -,
es gibt Hunde-Juwelen und Wellness-Center für Hunde inklusive
Whirlpool und Cocktails nach Wunsch. Wer einmal die Aufmacher des
Boulevard-Blattes "BZ" genauer unter die Lupe genommen hat, wird
feststellen, dass es dort mehr Artikel über Hunde als
über Kinder gibt.
In ganz Westeuropa, aber vor allem in Deutschland und England,
herrscht Verwirrung über die eigenen Werte. "Wir haben so
viel", sagt Anne Lise Kjaer vom Think-Tank Kjaer Global, "in
Zukunft wird es nicht mehr so sehr darum gehen, für was wir
uns entscheiden, sondern vielmehr darum, was wir hinter uns lassen
wollen." Die erfolgreichsten Fernsehserien sowohl in England als
auch in Deutschland - Friends, GZSZ (Deutschland), Neighbours
(England) - zeigen eine verloren gegangene Welt, in welcher sich
die Menschen kümmern und Interesse aneinander bekunden. Bei
Friends treffen junge, unverheiratete Menschen aus gescheiterten
Familien aufeinander, sie lachen gemeinsam und lösen gemeinsam
ihre Probleme. Bei Neighbours steht der Nachbar unangekündigt
auf dem Flur, um sich Zucker zu borgen und den neuesten Tratsch
auszutauschen. Draußen, in der wirklichen Welt, ist es viel
kälter, viel abgeschiedener. Arbeitskollegen werden nur selten
zu engen Freunden, Nachbarn ignorieren das schreiende Baby,
Familien führen nur selten Gespräche während des
Abendessens. Das Fernsehen bietet uns also diese verloren
gegangene, fiktionale Welt von Kameradschaft und Wärme. Doch
um uns daran zu erinnern, dass alles noch viel schlimmer sein
könnte, tischt uns das Fernsehen dazu Big Brother und andere
Reality-Shows auf. Der durchschnittliche Zuschauer ist folglich
zwischen Utopie und Distopie hin- und hergerissen.
Möglicherweise ist die Anspannung in Deutschland
stärker zu spüren als in anderen westeuropäischen
Gesellschaften. Die deutsche Gesellschaft ist eine statische
Gesellschaft. Die meisten Menschen entfernen sich in ihrem Leben
nicht weit von ihrer Heimatstadt, und das System tut alles, um die
Menschen an einem Ort festzunageln. Ein Kind im schulpflichtigen
Alter von einem Bundesland in ein anderes umzusiedeln, bedeutet,
einen bildungspolitischen Hindernisparcours zu bewältigen. Die
Querelen um einen Telefonanschluss in einer neuen Wohnung sind zu
einem nationalen Alptraum geworden. Möbellieferanten brauchen
länger als in jedem anderen westeuropäischen Land.
Weitaus besser ist es also, an ein und demselben Ort geboren zu
sein, zu arbeiten und zu sterben. Dieses Land der kleinen
Städte, so gewohnheitsmäßig träge und mit einem
bürokratischen Übereifer, sollte ein Vorbild des
Kommunitarismus sein. Es gibt durchaus noch Spuren - die
Freiwillige Feuerwehr ist meine Lieblingsorganisation in
Deutschland - aber im Ganzen betrachtet hat der politische
Stillstand nur eine Art ethischen Stillstands bewirkt.
Gewählt wird zwischen Nike und Adidas, zwischen Coca Cola
und Pepsi, zwischen Sat1 und RTL; die großen Entscheidungen
werden außer acht gelassen, denn die Deutschen, und ebenso die
Briten, verlieren ihr Vokabular für ethische Belange.
Am Horizont zeichnet sich, einfach gesagt, ein
Vertrauens-Kollaps ab. Die Zukunft, so sie überhaupt
thematisiert wird, ist in England eine Frage von Immobilienpreisen
(wie viel wird mein Haus wert sein, wenn ich einmal 65 bin) und in
Deutschland eine Frage der Altersvorsorge.
In anderen Zeitaltern bedeutete die Frage nach der Zukunft noch
ein Nachdenken darüber, welche gesellschaftliche Form
erstrebenswert war. Was wünschen wir uns für das Leben
unserer Kinder? Zufriedenheit mit sich selbst und der Welt? Wenn
ja, wie lässt sich dieses Ziel erreichen? Welche Werte sind
grundlegend?
Die Einstellung der Gesellschaft gegenüber Steuern ist ein
Maßstab unseres gegenwärtigen Versagens. Das
Steuersystem, gerecht und transparent, war einst der Grundpfeiler
eines zivilisierten Lebens, Steuerzahlungen unser Beitrag für
die Gemeinschaft. Heute gelten Steuern als teuflisches Element der
Gesellschaft. Regierungen erhöhen die Steuern, entweder um
ihre Inkompetenz zu kaschieren oder um eine Gesellschaft zu lenken.
Die jüngste Absurdität aus Blairs Strategy Unit ist eine
Besteuerung fetthaltiger Lebensmittel, um Fettleibigkeit
entgegenzuwirken (Vollmilch würde demnach vermutlich
höher besteuert als Magermilch). Der Grundgedanke des
Steuersystems wird missbraucht. Wir sollten gemeinsam darüber
reden, wie wir uns unsere Gesellschaft vorstellen und welche Kosten
mit diesen Vorstellungen verbunden sind. Stattdessen findet eine
allgemeine Entmündigung der Bürger statt, und tiefe
Ratlosigkeit herrscht über die Frage, was uns am wichtigsten
ist.
Unsere Enkel werden sich an diese Zeit als "die zynischen Jahre"
erinnern: Der historische Moment, als der Westen seinen Sinn
für die westlichen Werte verlor. Oscar Wilde hat uns
erklärt, dass der Zyniker für alles den Preis und von
nichts den Wert kennt. Ist das nicht erschreckend?
Roger Boyes ist Korrespondent von The Times, London, in
Berlin.
Zurück zur
Übersicht
|