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Tobias Kaufmann
"Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod"
Werte in der Welt des Terrors: "Kampf der
Kulturen" oder Antwort auf westliche Dominanz?
Silvester-Party 2003 in Berlin: eine Million Menschen singt,
tanzt, lacht am Brandenburger Tor. Böller explodieren. "In
diesem Moment habe ich gedacht, was wohl passieren würde, wenn
sich hier mitten in der Menge ein Selbstmordattentäter in die
Luft sprengt", sagt Benjamin, 24, Informatik-Student in Potsdam.
Benjamin wird nicht der einzige gewesen sein, der irgendwann an
diesem Abend, in diesem unübersichtlichen Getümmel
feiernder Menschen, für Sekunden Gedanken an eine Katastrophe
hatte. Andere zucken zusammen, wenn morgens auf dem Weg zur Arbeit
die U-Bahn stockt und in der Dunkelheit stehen bleibt. Alle
Anschläge der letzten Zeit haben sich schließlich gegen
so genannte weiche Ziele gerichtet. Ziele wie etwa die Love-Parade,
Symbol westlich geprägter, offen zur Schau gestellter
Lebensfreude - wer könnte ein Blutbad verhindern, wenn in
einem der abertausend Rucksäcke Sprengstoff statt Alkopops
verborgen ist? "Wir können nicht davon ausgehen, dass
Deutschland außerhalb solcher Ziele liegt", sagte
Innenminister Otto Schily (SPD) kürzlich. Der islamistische
Terror ist laut aktuellem Verfassungsschutzbericht die
größte Bedrohung für die innere Sicherheit in
Deutschland.
"Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war", hieß es nach
den Anschlägen islamistischer Terroristen auf das World Trade
Center und das Pentagon am 11. September 2001. Tatsächlich hat
sich einiges verändert. Der Wert Sicherheit ist für viele
Menschen wichtiger geworden. Das drückt sich mit strengeren
Gesetzen, mehr Polizeipräsenz, Einschränkung bestimmter
Bürgerrechte aus. Deutschland ist keine Ausnahme. Bei beinahe
jeder öffentlichen Veranstaltung gibt es mehr oder weniger
strenge Eingangskontrollen. Die Flughäfen werden strenger
überwacht als je zuvor. Auch außenpolitisch ist der
Westen härter geworden. Viele Länder sind bereit, wie in
Afghanistan Terrorismus mit kriegerischen Mitteln zu
bekämpfen.
Der britische Islamwissenschaftler Bernard Lewis weist darauf
hin, dass sich alle großen gewaltsamen Konflikte unserer Zeit
an den Rändern der islamischen Welt abspielen. Der "Kampf der
Kulturen", den der US-Politologe Samuel Huntington vorhergesagt
hat, scheint Wirklichkeit geworden. "Ihr liebt das Leben, wir
lieben den Tod" - grundlegender als in der Botschaft des
Terrornetzwerks Al-Qaida nach den Anschlägen in Madrid im
März kann dieser Kampf nicht zum Ausdruck gebracht werden. Der
Krieg, den Terrorchef Osama Bin Laden erklärt hat, gilt nicht
der politischen Klasse oder international operierenden Konzernen,
sondern jedem Amerikaner, jedem Christen, jedem Juden und sogar
jenen Moslems, die den Islamisten nicht fundamentalistisch genug
sind. Jeder, der Zug fährt, der ein Kaufhaus, eine Disko oder
einen Nachtclub besucht, ist ein potenzielles Ziel - die
Anschläge in Madrid, Istanbul oder Bali haben es gezeigt.
Bedroht sind einzelne Menschen und kollektive Werte, die dem
islamistischen Terror ein Dorn im Auge sind. Zu diesen Werten
gehören neben Grundsätzen wie Menschenrechten,
Demokratie, Gleichberechtigung, Meinungs- und Religionsfreiheit
auch vermeintlich profane Dinge wie Privateigentum, freier Handel,
freier Konsum - und damit, wenn man so will, auch McDonald's.
Werte, die die islamistischen Terroristen, die vielfach im Westen
studiert und gelebt haben, offenbar von ihrer Liebe zum Tod nicht
abbringen konnten. Nicht von ungefähr hat der amerikanische
Soziologe Benjamin Barber eine Welt zwischen den Polen "Dschihad"
und "McWorld" beschrieben. Ein Beispiel: Ein Viertel der weltweiten
Ölproduktion, zehn Millionen Barrel Öl, werden allein
durch die beiden Meerengen von Hormus und Malakka transportiert.
Solche Lebensadern vor Terror zu schützen, ist für den
Wes-ten - und damit auch für Deutschland - unverzichtbar. Im
Kampf gegen den Terror geht es also um mehr als um die Sicherheit.
Es geht um Werte. Ökonomische, aber auch ideelle.
In Europa und gerade in Deutschland gibt es dennoch viele
Menschen, die sich zu "McWorld" nicht zugehörig fühlen.
Die Globalisierung und der ungleich verteilte Reichtum auf der Welt
sind für sie Ursachen des Terrors, die der Westen beseitigen
müsse. Schon kurze Zeit nach den Fernsehbildern aus New York
verblasste die "uneingeschränkte Solidarität"
(Bundeskanzler Schröder) vieler Deutschen mit den USA. Der
deutlichste Ausdruck der Distanz: Zwei Jahre nach den
Anschlägen vermutete fast ein Drittel der unter
30-Jährigen, die US-Regierung habe den 11. September selbst
inszeniert. Dennoch hatte jeder zweite vor einem Jahr Angst vor
Anschlägen in Deutschland. "Schuld" sind für viele die
Globalisierung im allgemeinen und die USA (und Israel, das 60
Prozent der Deutschen in einer Umfrage als die größte
Gefahr für den Weltfrieden ansahen) im Besonderen.
Kriegseinsätze wie der in Afghanistan werfen zudem die
Frage auf, ob der Westen nicht seine Werte aufgibt, Gefahr
läuft, sich auf eine Stufe zu stellen mit den islamistischen
Mördern.
Andererseits stellt sich die Frage, wo der Spielraum zum
Nachgeben bleibt, wenn man es mit einem Gegner zu tun hat, der
nicht verhandeln will, der nicht zu orten ist, der dezentral
organisiert ist und dessen Ziel totale Vernichtung ist.
Dennoch: In den Leserbriefspalten, etwa der "Berliner Zeitung",
wurde nach den Anschlägen von Madrid mehrheitlich die
Auffassung vertreten, Deutschland sei solange vor dem Terror
gefeit, wie sich die Bundesregierung im Kampf gegen den Terror
zurückhalte und ein Gegengewicht für mehr Gerechtigkeit
in der Welt setze.
Faktisch ist diese Haltung kaum zu begründen. Denn die
Globalisierung ist kein amerikanisches Phänomen. Europa
besitzt über die internationalen Aktienmärkte einen
wachsenden Teil Amerikas - Daimler-Chrysler ist dafür nur ein
Beispiel. Geschätzt drei Millionen Menschen arbeiten für
deutsche Firmen im Ausland. Neun Prozent der Direktinvestitionen im
Ausland kommen von deutschen Firmen. Das bedeutet Platz drei unter
den Nationen der Welt.
Die Annahme, Deutschland sei in die Vor- und Nachteile einer
vernetzten Welt weniger involviert als die USA, ist ebenso wenig
haltbar wie der Glaube, es sei vom Krieg der Werte nur mittelbar
oder gar nicht betroffen. Bei den Anschlägen auf Djerba und
Bali waren Deutsche unter den Opfern. Auch unter den Toten des 11.
September 2001 waren mindestens 30 Deutsche. Die Haupttäter
bereiteten die Anschläge über Jahre hinweg in Deutschland
vor. Der auf die Anschläge folgende Börsensturz hat
deutsche Firmen ebenso getroffen wie der Passagierrückgang im
internationalen Flugverkehr. Allein die Lufthansa musste mit 70
Millionen Euro Steuergeldern gestützt werden. Die weltweiten
Verluste der Branche betrugen nach Schätzungen der
internationalen Flugorganisation IATA rund 22 Milliarden Euro. Aber
auch die armen Länder der Welt leiden unter dem Terror, nicht
nur wegen des nachlassenden Tourismus in Länder wie
Ägypten oder Tunesien. Nach wie vor sind ein Großteil der
Todesopfer Muslime, wie bei den Attentaten in Nairobi oder im Irak.
Jeder Anschlag steigert zudem die so genannten Transaktionskosten
der internationalen Unternehmen und hemmt die
Investitionsbereitschaft ausländischer Firmen - was direkte
Auswirkungen auf den Lebensstandard in den betroffenen
"Gastgeber"-Ländern hat.
Ein dritter Weg zwischen "Dschihad" und "McWorld" scheint
demnach nicht nur für Europa schwer zu finden, geschweige denn
zu gehen. Auch, weil die Terroristen kein Interesse an so einer
Alternative haben. Es passt fast zu gut, dass Coca-Cola oder Pepsi
in den Terrorlagern Afghanistans streng verboten waren. Die
Softdrinks waren für Bin Laden das Symbol des verhassten
Westens schlechthin - was ihn allerdings angeblich nicht daran
hinderte, heimlich selbst ab und zu die braune Brause zu
trinken.
Tobias Kaufmann ist Redakteur der "Jüdischen Allgemeinen"
in Berlin.
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