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Hans Monath
Ein bisschen Bindung darf's schon sein
Die Familie wird immer attraktiver.
Tatsächlich macht sie nicht so unfrei, wie ihre Kritiker
behaupten
Es kommt nicht oft vor, dass die Journalisten
der Berliner "tageszeitung" (taz) von einer Entwicklung kalt
erwischt werden und schlicht nicht mehr verstehen, was in ihrem
Land vorgeht. Zu viel große politische und gesellschaftliche
Umbrüche in Deutschland haben die "taz"-Macher in den
vergangenen 15 Jahren miterlebt, kommentiert und selbst
durchlitten. Von vielen alten Gewissheiten ist wenig geblieben. Vor
wenigen Wochen aber zeigten sich die linksalternativen
Meinungsmacher ausnahmsweise einmal völlig verwirrt von der
Konfrontation mit einem sozialen Phänomen - und das
ausgerechnet beim Thema Familie und Kinder.
In einem Interview der Zeitung nämlich
beschrieb der Soziologe Heinz Bude mit großem
Einfühlungsvermögen die wachsende Attraktivität des
Kinderkriegens in Deutschland und sagte der politischen Kraft
Erfolg bei den nächsten Bundestagswahlen voraus, die für
die starken Bedürfnisse von Familien die richtigen Antworten
liefere. Während die Journalisten zwischen Staunen und Abwehr
schwankten, erklärte der Wissenschaftler die neue
Anziehungskraft der alten Lebensform aus ihrem Bindungsangebot:
"Man will nicht immer nur von sich aus denken, sondern sich durch
einen anderen festlegen lassen. Das ist eine konservative Tendenz
in der Gesellschaft."
Nun mag Bude, der gerne provoziert, den
konservativen Zug der Familie bewusst herausgehoben haben. Doch die
Abwehrhaltung der "taz" ist trotzdem symptomatisch - weit über
den Kreis der Zeitung und ihres Milieus hinaus. Man kann den
Familienpolitikern einer beliebigen Partei zuhören. Man kann
sich wahllos eine Publikumszeitschrift greifen. Man kann die
Demoskopen fragen, sich TV-Werbung ansehen oder in die Statistik
schauen. Überall wird man den gleichen Befund finden, egal ob
er in nüchternen Zahlen ausgedrückt ist oder von einem
Fotografen inszeniert wird mit rotbäckigen Vorzeigekindern,
die mit ihren Eltern fröhlich und farbenbunt über den
Strand rollen, um für hoch wirksame und sichere Medikamente zu
werben: Kinder sind ein Glücksversprechen, Familie ist
angesagt zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Aber ihre Renaissance im
öffentlichen Diskurs gilt manchem als gesellschaftspolitischer
Rückschritt.
Während bei den Jüngeren der
Kinderwunsch fast von Jahrgang zu Jahrgang wächst, sind die
Vorurteile vor allem unter Menschen verbreitet, die älter als
40 sind und damit in den gesellschaftspolitischen Nachfolgedebatten
der 68er sozialisiert wurden. Als jüngere Grüne ein Jahr
vor der Bundestagswahl 2002 die Familie als Kernthema im Wahlkampf
ihrer Partei verankern wollten, schlug ihnen zunächst einmal
heftige Skepsis eines Teils des Parteiestablishments entgegen -
jenes Teils nämlich, der sich offenbar noch immer in der
Tradition des Kampfes gegen eine spießige Gesellschaft sieht,
zu deren angeblich erstickenden Werten auch das Bekenntnis zur
Familie gehörte. Für sie bleibt die Familie weiter ein
Hort der Unfreiheit und der soziale Ort, an dem im emotionalen
Nahkampf mit herrischen Vätern und klammernden,
überbesorgten Müttern von jedem Überlebenden schwere
Neurosen ausgebrütet werden.
Aber wer beim Wort "Familie" nur an die Welt
der 50er-Jahre denkt, hat sich die Gegenwart mit ihren völlig
anderen Familienarten nicht angesehen. Auch wenn Zweidrittel aller
Kinder mit beiden leiblichen Eltern zusammen aufwachsen, hat sich
die Familie heute zu einem so bunten Phänomen entwickelt, dass
Soziologen so komplizierte Begriffe wie "Werkstattfamilie vor Ort",
"Fortsetzungsfamilie", "Hybridfamilie" oder "postfamiliale Familie"
erfinden mussten, um Ordnung in alle ihre Erscheinungsformen zu
bringen. Es gibt auch keinen größeren Irrtum als den
Glauben, die Gründung einer Familie im Jahr 2004 bedeute das
Ende aller Entscheidungen und das Ende aller Freiheit. Denn die
Herausforderung beginnt schon lange, bevor ein Kind überhaupt
auf der Welt ist. Wer jemals einen Geburts-Vorbereitungsabend in
einem größeren deutschen Krankenhaus erlebt und bestaunt
hat, muss zur Kenntnis nehmen, dass sich schon für werdende
Eltern Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungszwänge
auftun, von deren Existenz diese zuvor keine Ahnung hatten: Soll
die Geburt im Schwitzbad, in der Hängeschaukel, auf dem
indianischen Hocker oder doch auf dem ganz normalen Bett vonstatten
gehen? Der geduldig-freundliche Arzt am Pult erklärt seiner
kritischen Kundschaft ohnehin gerade werbend, dass er nur dann
eingreifen will, wenn es medizinisch geboten ist - alles andere
überlässt er dem Ermessen der werdenden
Mutter.
Von nun an heißt es nicht mehr nur:
Entscheide für dich! Sondern vor allem: Triff die richtige
Entscheidung für das Kind! Welches Essen bekommt dem Kleinen
am besten? Welches Spielzeug fördert seine Anlagen? Welche
Schule passt zu ihm - die nahe mit den vielen Schülern oder
die ferne mit Englisch in der dritten Klasse und den Bastelkursen?
Wer jemals in einem Kindergarten in die knallbunte Plastikbox mit
dem gesammelten Hort-Frühstück für jedes einzelne
Kind geschaut hat, wer darin neben fünf verschiedenen
Obstsorten ein halbes Dutzend verschiedene Joghurts mit
unterschiedlichen Fettgraden, Weiß-, Grau- und
Schwarzbrotstullen und Süßigkeiten entdeckt hat,
weiß: Jede Mutter und jeder Vater hat einen ganz speziellen
Grund, genau dieses Frühstück einzupacken und kein
anderes. Und die meisten haben sich etwas dabei gedacht.
Schießlich verordnen sich schon Kleinkind-Eltern in
Deutschland einen mindestens
14 Punkte umfassenden Mimimalkatalog von
Förderaufgaben für den Nachwuchs, wie Pädagogen
herausgefunden haben.
Von der Papa-Mama-Kind-Familie des ersten
bundesdeutschen Familienministers Franz-Josef Wuermeling (der
CDU-Politiker führte das Ressort von 1953 bis 1962) ist die
moderne Familie zumindest in ihrem Selbstverständnis so weit
entfernt wie eine Isetta oder ein Goggomobil von einem modernen
Mittelklassewagen - meilenweit. Als Idealmodell galt im
Westdeutschland der 50er-Jahre die Versorgerehe, bei der nur der
Mann in den Betrieb oder ins Büro ging und die Mutter Heim,
Herd und Nachwuchs hütete. "Für Mutterwirken gibt es nun
mal keinen vollwertigen Ersatz", erklärte Minister Wuermeling
damals und denunzierte ganz im Geist seiner Zeit weibliche
Erwerbstätigkeit als Ausdruck materieller Gier: "Eine Mutter
daheim ersetzt vielfach Autos, Musiktruhen und
Auslandsreisen."
Zumindest dem Selbstverständnis nach
sind Mütter und Väter der Gegenwart gleichberechtigt und
versuchen beide, den Kinderwunsch und Erfolg im Beruf zu vereinen.
Dass Familienministerin Renate Schmidt (SPD) mit besseren
Betreuungsangeboten vor allem den Frauen die Erfüllung dieses
Wunsches ermöglichen und so die Entscheidung für Kinder
erleichtern will, honoriert sogar die Opposition. Denn faktisch
sind es noch immer die Frauen, die beruflich zurück-stecken,
wenn das Kind erst einmal da ist. Erziehungsurlaub nimmt nur eine
verschwindend geringe Minderheit von Vätern. Gerne kommen die
aber abends ins Kinderzimmer und geben den frisch geduschten
Kleinen im wohl riechenden Schlafanzug einen Gutenachtkuss. Da hat
die Mutter längst einen anstrengenden Tag hinter sich, in
denen sie Windeln wechseln, Essen zubereiten, Hausaufgaben betreuen
oder Streit schlichten musste. Und wenn sie versucht, ihren Beruf
von zu Hause aus weiterzuführen, dann hat wahrscheinlich der
Zweijährige ausgerechnet mitten im wichtigsten Telefonat des
Tages mit einem Kreischanfall sein Recht auf Aufmerksamkeit
unüberhörbar eingefordert.
Doch ihren gemeinsam geteilten Anspruch, dass
beide Partner Beruf und Familie vereinbaren können, versuchen
auch immer mehr Eltern mit viel Fantasie und noch mehr
Organisationsgeschick einzulösen. Dann sieht der Alltag eben
so aus, dass die Mutter auf dem Weg zu ihrem Termin, zu ihrem
Kinobesuch oder zu ihrer Essensverabredung im fliegenden Wechsel im
Treppenhaus am Vater der Kinder vorbeistürmt, der minutengenau
zu Hause eingetroffen ist. Auch hat es sich bei einigen Eltern
herumgesprochen, dass ein Mobiltelefon im Notfall allzeitige
Erreichbarkeit garantiert und sich das nicht weniger moderne
Festnetztelefon zu Hause ebenfalls programmieren lässt, damit
auch ein kleineres Kind mit einem Tastendruck Mama oder Papa direkt
am Hörer hat.
Wenn die Skeptiker einmal einen Blick in eine
moderne Familie werfen würden, könnten sie auch schnell
feststellen, dass dort anders als in den 50er-Jahren nicht etwa ein
autoritärer "Pater familias" in strengem Ton Anweisungen
austeilt, die seine Kinder prompt befolgen müssen. Das Prinzip
Gehorsam ist dort längst dem Prinzip Verhandlung gewichen.
Nicht als Autoritätsperson, sondern als Freunde und Partner
wollen Mama und Papa heute ihrem Kind oder ihren Kindern
entgegentreten. Schon gleich nach dem Aufstehen geht es doch heute
in deutschen Familien zu wie in einer Runde der Tarifverhandlungen
von
IG Metall und Metall-Arbeitgebern. "Was
krieg' ich dafür, wenn ich zum Bäcker gehe?", heißt
es da. Wenn schon ein elterliches Lockangebot unterbreitet wurde,
wird kindseitig wenigstens versucht, die Höhe der
Sonderzahlung zu steigern: "Dann möchte ich mir aber auch zwei
Mohnschnecken mitbringen dürfen." Mit anderen Worten: Die
Familie ist ein genaues Abbild und auch der Lernort jener
Konsensgesellschaft, von der in der Debatte über Reformen so
oft die Rede ist.
Ganz sicher ist die Familie auch da ein
Abbild ihrer Gesellschaft, wo sie sich von Familien in anderen
Ländern unterscheidet und zum Beispiel viel ängstlicher
ist als bei anderen Europäern. In Deutschland stufen
Gynäkologen 70 bis 80 Prozent aller Schwangerschaften als
kontrollbedürftige Risikofälle ein, in den Niederlanden
ist das Verhältnis umgekehrt: Nur
30 Prozent werden dort ärztlich
kontrolliert. In Deutschland werden also auch jene Schwangeren
intensiv überwacht, die offenbar nicht besonders
gefährdet sind. Und trotzdem werden sie sich besser
fühlen, wenn der Arzt ihnen bescheinigt, dass gar nichts
ist.
Darum, dass die Gründung einer Familie
die gewohnte Entscheidungsfreiheit einschränkt, sollte niemand
herumreden: Wenn das Kind wirklich krank wird, kann niemand mehr
durchschlafen und muss ein Elternteil womöglich zwei Wochen zu
Hause bleiben. Materiell draufzahlen müssen Eltern ohnehin in
einer Gesellschaft, deren größtes Armutsrisiko Kinder
bilden. Die Angebote für den Kurztrip nach Paris oder die
Ferien auf Korfu mögen schließlich noch so günstig
sein: Sie helfen der Familie gar nichts, wenn sie außerhalb
der Ferienzeit liegen. Da sich die Generationenabfolge
verlängert hat, sind die Großeltern, diejenigen, die in
früheren Generationen einen Teil der Erziehung übernommen
haben, oft schon zu alt, um die Kinder mehrere Tage lang zu
hüten. Aber manchmal finden sich dann doch gute Freunde, die
zur Familie gehören und zwei Tage auf die Kinder
aufpassen.
Man kann es auch umgekehrt sagen: Freier als
die Gesellschaft kann auch die Familie nicht sein. Vielleicht aber
ist auch die Preisgabe einer bestimmten Art von wohlfeiler Freiheit
das geheime Erfolgsrezept der Familie. Der Soziologe Heinz Bude
zumindest ist überzeugt: "Bindung ist das knappe Gut, für
das die Familie sorgen muss." Insofern könnte man die
Wiederkehr einer alten Lebensform in modernem Gewand und in vielen
Konstellationen auch als ein sehr ermutigendes Signal für die
Reformdebatte in Deutschland lesen. Denn der Mensch ist doch
bereit, sehr viel zu geben, wenn er denn ganz persönlich
spürt, was er damit gewinnt.
Hans Monath ist Redakteur im
Parlamentsbüro des Berliner "Tagesspiegel".
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