"Religion ist zu etwas geworden, was man sich
aussuchen kann"
Interview mit dem Münchner Theologen
Friedrich Wilhelm Graf
Friedrich Wilhelm Graf, Lehrstuhlinhaber
für Systematische Theologie und Ethik an der
Ludwig-Maximilians-Universität in München, ist eine
Ausnahme unter den deutschen Universitätstheologen. Der
56-Jährige glaubt, dass eine immer schwächer werdende
Bindung an die Kirchen nichts mit einer Entchristlichung unserer
Kultur zu tun hat. Zuletzt erschien von ihm "Die Wiederkehr der
Götter. Religion in der modernen Kultur" im Beck-Verlag.
Das Parlament
Ist die deutsche Gesellschaft
religiös?
Friedrich Wilhelm Graf Im Kern sehr. Wir
erleben weltweit seit den 1980er-Jahren eine Renaissance der
Religionen, auch in Deutschland. Dabei gibt es zwischen Ost- und
Westdeutschland sehr unterschiedliche Verhältnisse.
Das Parlament
Wie manifestieren die sich?
Friedrich Wilhelm Graf Die Rolle der alten
religiösen Institutionen - der Kirchen - ist hier wie dort
verschieden. In den neuen Bundesländern gibt es noch einen
starken Einfluss DDR-spezifischer Weltanschauungsinstitutionen:
Jugendweihe, Traditionen des sozialistischen Begräbnisses und
so fort.
Das Parlament
Führt Wohlstand zur Aufweichung
allgemeinverbindlicher Dogmen?
Friedrich Wilhelm Graf Auch auf niedrigem
Wohlstandsniveau haben Menschen sehr abweichende moralische und
religiöse Ansichten. Im Übrigen hat es
allgemeinverbindliche Dogmen sehr selten in der Geschichte gegeben.
Die konfessionellen Gemeinwesen Alteuropas waren nicht so
konfessionell homogen.
Das Parlament
In der katholischen Kirche gibt es die
Vatikanischen Konzile, Enzykliken des Papstes...
Friedrich Wilhelm Graf ...ja gut. Aber die
Verkündigung von Dogmen durch eine kirchliche Institution ist
etwas sehr anderes als die tatsächliche Akzeptanz von
Lehrsätzen innerhalb einer religiösen Gemeinschaft. Die
große Mehrheit der deutschen Katholiken teilt die meisten
moralischen und sozialethischen Positionen des Vatikans
nicht.
Das Parlament
Woran liegt das?
Friedrich Wilhelm Graf Der Pluralismus der
Lebensstile und Wertorientierungen, Sinnentwürfe und
biographischen Konstruktionen ist nicht nur ein gesellschaftliches
Phänomen, sondern in den großen Kirchen selbst
präsent. Sie müssen ja nur zum Katholikentag oder zum
evangelischen Kirchentag gehen.
Das Parlament
Um auf die Rolle des Wohlstandes
zurückzukommen...
Friedrich Wilhelm Graf Wohlstand entlastet.
Er entlastet Individuen davon, sich Tag für Tag in einem
harten "Daseinskampf" um elementare Ressourcen des Überlebens
kümmern zu müssen. Er eröffnet Zeiträume
für anderes.
Das Parlament
Danach gäbe Wohlstand dem
Religiösen eine Chance.
Friedrich Wilhelm Graf In der Tat. Dabei kann
sich die Gestalt von Religion vielfältig wandeln.
Das Parlament
Bedient sich der Einzelne in unserer
postmodernen Gegenwart des Religiösen wie in einem
Supermarkt?
Friedrich Wilhelm Graf Das ist ja nichts
Postmodernes. Moderne Freiheit besteht einfach darin, dass ich
wählen kann. Das Phänomen, dass Menschen sich zu
religiösen Traditionen auswählend verhalten, haben wir
schon im 18. Jahrhundert: in dem Moment, da der Einzelne seinen
individuellen Glauben als entscheidend ansieht, sich nicht mehr vom
Pfarrer oder Theologieprofessor oder irgendwelchen Lehrern sagen
lässt, was Christentum heißt.
Das Parlament
Bedient er sich heutzutage da aber nicht nur
aus christlichem Bestand, sondern auch aus dem von religiösen
Absplitterungen und Sekten?
Friedrich Wilhelm Graf Der Sektenbegriff ist
problematisch - das wäre ein neues Interview. Es gibt aber in
der Tat mehr Angebote auf dem religiösen Markt und damit
verbunden auch ganz verrückte Dinge. Mehr Angebote bedeuten
mehr Wahlchancen - so, wie man in einem Supermarkt nicht nur einen
Joghurt kaufen kann, sondern eine breite Palette an Bechern hat. Da
gibt es ganz neue Entwicklungen: die Kombination von christlichen
Symbolen mit buddhistischen Entspannungstechniken etwa.
Das Parlament
Also Vermischung von Elementen
unterschiedlicher religiöser Kulturen?
Friedrich Wilhelm Graf Letztlich hat es das
in der Religionsgeschichte immer gegeben. Das Neue ist nur, dass es
dies verstärkt und für ein sehr viel breiteres Publikum
gibt.
Das Parlament
Seit der Aufklärung spricht man
allgemein von Säkularisierung von Staat und Gesellschaft.
Breitet sie sich soweit aus, dass Religion zugunsten anderer
Ersatzfelder wie Sport in die Defensive gedrängt
wird?
Friedrich Wilhelm Graf Zunächst meint
Säkularisierung die Entkoppelung von Staat und religiösen
Vorgaben. In der Weise wollen wir sie, weil wir den liberalen
Rechtsstaat nicht auf Religion begründen.
Das Parlament
Gerade im Unterschied zu Staaten in der
islamischen Welt.
Friedrich Wilhelm Graf Wir haben ja keine
Theokratie. Insofern gibt es eine gute, positive
Säkularisierungsgeschichte. Eine andere Frage ist, ob man von
einer Säkularisierung im Sinne eines wachsenden
Glaubensverlustes ausgehen kann. Dagegen spricht sehr viel. Wir
haben im 19. Jahrhundert immer wieder Renaissancen des
Religiösen und wir erleben auch jetzt dramatische
Entwicklungsschübe. Es gibt keinen notwendigen Zusammenhang
von Religion und gesellschaftlicher Modernisierung.
Das Parlament
Aber immer mehr Kirchenaustritte.
Friedrich Wilhelm Graf Andererseits haben wir
eine steigende Bereitschaft, für caritative Zwecke, für
"gute Dinge" zu spenden. Manche Menschen bezeichnen sich als wenig
religiös, beteiligen sich aber an allen möglichen
religiösen Praktiken.
Das Parlament
Wie blicken Sie auf die Ersatzfelder des
Religiösen - den Sport?
Friedrich Wilhelm Graf Sie können auch
an die Popkultur denken, in der die Helden quasireligiös
verehrt werden.
Das Parlament
Helden besitzen Halbgötterstatus. Reicht
die Renaissance des Religiösen bis in die Antike zurück,
die den für jede Situation passenden Gott oder Halbgott
verspricht?
Friedrich Wilhelm Graf Das ist seit
dem
17. Jahrhundert schon so: Wir kommen nach Rom
oder Hella zurück, weil wir einen modernen Polytheismus haben.
Das Entscheidende aber ist, wie solche Halbgötter entstehen.
Die gibt es ja nicht. Die werden aus einem komplexen Zusammenspiel
zwischen Heroen und Erwartungen an Heroen gemacht. Die meisten
Sportgötter sind Erfindungen der Medien. Die werden aufgebaut
und inszeniert. Der Kult vom Sportheroen ist ein Beispiel
dafür, dass im Bild des Einzelnen Gruppen der Gesellschaft
sich Grundstrukturen des menschlichen Lebens vergegenwärtigen.
Was wäre Herr Kahn, wenn er immer nur erfolgreich
wäre...
Das Parlament
...ohne Ehebruch, ohne Fehlgriffe, ohne
Verletzungen...
Friedrich Wilhelm Graf ...dieses Muster des
"Er kam wieder". Er hat verloren und ist nach hartem Kampf
zurückgekehrt. Da stecken Elemente eines Auferstehungsmythos
drin.
Das Parlament
In der Wirtschaftssprache lebt das
Christentum ja allein schon im Gläubiger und Schuldner
fort.
Friedrich Wilhelm Graf Oder um mit Marx zu
sprechen: Das Geld ist der Gott der bürgerlichen Gesellschaft.
Aber man kann sich fragen, was Religion im gelungenen Fall leistet:
dass sich die Menschen zur Zufälligkeit ihrer Biographie
konstruktiv und geordnet verhalten können. Diese Leistung der
Religion wird auch in modernen Gesellschaften
nachgefragt.
Das Parlament
Sind die Kirchen als Institutionen auf dem
Rückzug?
Friedrich Wilhelm Graf Sie haben Probleme,
die wachsenden religiösen Bedürfnisse samt ihrer
Phänomene zu integrieren. Sie sind vor neue Aufgaben gestellt.
Nur eins ist klar: Religion ist ein sehr wichtiges Thema. David
Beckham ist gefragt worden, ob er seine Tochter taufen lassen will.
Er sagt: "natürlich". Nur wisse er noch nicht, in welcher
Konfession - eine klassisch moderne Antwort: dass Religion zu etwas
geworden ist, was man sich aussuchen kann.
Das Parlament
Hat dabei Jesus noch eine Zukunft?
Friedrich Wilhelm Graf Ich bin davon
überzeugt, dass die christlichen Kirchen kein schlechtes
Angebot haben. Entscheidend ist, wie die Kirchen das, was sie zu
sagen haben, kommunizieren. Unter pluralen Bedingungen braucht man
verstärkte Pflege der Corporate Identity, klare
Produktidentität, Erkennbarkeit, Konzentration auf
Kernkompetenz.
Das Parlament
Sie geben den Kirchen also für die
nächsten 50 Jahre eine Chance?
Friedrich Wilhelm Graf Eine große Chance
sogar.
Das Interview führte Christoph
Oellers.
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