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Martin Spiewak
Kinder mit fünf Elternteilen
Schöne neue Welt der
Reproduktionsmedizin
Ein Informationsabend für Schwangere in
einem deutschen Krankenhaus. Zwei Dutzend Paare sind gekommen und
möchten von den Vorzügen überzeugt werden, gerade
auf dieser Geburtsstation zu entbinden. Das anwesende Personal gibt
sich redlich Mühe. Der Gynäkologe spricht von der
"Individualität der Geburt". Die Schwestern zählen die
Möglichkeiten der Niederkunft auf, die das Haus bietet: in der
Wanne oder auf dem Hocker, hängend am Gebärtuch, rollend
auf dem Petziball oder gemeinsam mit dem Mann im Bett.
Darüber hinaus stehen Aromatherapie,
Homöopathie und Akupunktur im Angebot, und wenn
gewünscht, schaltet die Rückenmarksspritze alle
Wehenbeschwerden aus. Auch der Kaiserschnitt auf Wunsch ist eine
mögliche Option, erfahren die anwesenden Paare: "Wir richten
uns nach den besonderen Wünschen der Frau", sagt der Oberarzt
der Entbindungsstation.
Das hören die Paare gern. Jahrelange
haben viele von ihnen die Vor- und Nachteile eines Kindes
vermessen, seine Chancen und Risiken kalkuliert: ob der Zeitpunkt
der richtige ist, ob die Beziehung die Belastung aushält, ob
die Karriere eine Unterbrechung erlaubt. Da darf man sich jetzt, wo
das "Projekt Kind" zur Geburt ansteht, keiner Planlosigkeit
schuldig machen.
Bloß nichts dem Zufall
überlassen!
Es gab einmal eine Zeit, da kam der Nachwuchs
über ein junges Paar wie ein Naturereignis, und die Kinder
wurden ausschließlich gezeugt, indem zwei Menschen miteinander
Sex hatten. Dann wartete Frau neun Monate, gebar zu Haus oder im
4-Bett-Kreißsaal des nächstgelegenen Krankenhauses, und
mit Gottes Hilfe und Mutters Rat wurde aus zwei Menschen eine
Familie. Manche Paare blieben kinderlos. Das Schicksal habe es
nicht gewollt, hieß es dann.
All das ist knapp zwei Generationen her und
scheint dennoch unendlich weit entfernt. Heute wollen moderne Paare
nichts dem Zufall überlassen: weder den Zeitpunkt der Zeugung
noch das Ergebnis, weder die Art der Geburt noch den Ort der
Niederkunft. Die Planungswut produziert einen Heißhunger auf
Information. Ob alternativ angehaucht oder eher pragmatisch,
wissenschaftlich nüchtern oder voyeuristisch verkitscht: Die
Experten und Ratgeber, TV-Serien und Spezialzeitschriften, auf die
Schwangere zurückgreifen können, sind gewaltig. Allein
beim Stichwort "Geburt" wirft der Internetbuchhandel Amazon 1281
Titel aus.
Niemals war die Zahl der geborenen Kinder in
Deutschland so niedrig - und der Aufwand für die
Vorbereitungen ihrer Ankunft so hoch. Zu keiner Zeit wurden Paare
so spät erstmals Eltern - und stimmten sich gleichzeitig so
früh in der Schwangerschaft darauf ein. Und klappt es nicht,
steht die Fortpflanzungsmedizin bereit, dem Wunder der Zeugung auf
die Sprünge zu helfen. Einfacher geworden ist das
Kinderkriegen damit nicht. Im Gegenteil: Kein Schicksal mehr zu
haben ist auch ein Schicksal, und zwar kein leichtes.
Dabei hat sich am Urwunsch, Nachwuchs in die
Welt zu setzen, nichts geändert. Auch heute gehören
Kinder zu einem erfolgreichen Menschen und einer gelungenen
Biographie. In Zeiten der Krise vielleicht sogar mehr denn je. Laut
einer im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und
Wissenschaft erstellten Umfrage hielten nur zehn Prozent der
Befragten ein Leben ohne Kinder für erstrebenswert, 14 Prozent
der Männer, fünf Prozent der Frauen. Doch die
Entscheidung zum Kinderkriegen wird immer wieder verschoben.
20-Jährige antworteten, das beste Alter, Nachwuchs zu zeugen,
sei mit 26 Jahren. Befragte zwischen 21 und 30 gaben als idealen
Moment zum Mutterwerden 29 an, die Befragten zwischen 31 und 40
Jahren schließlich 36. Ebenso wuchs die Gemeinde der
Spätgebärenden über 34 Jahre in diesem Zeitraum von
1,3 auf 22 Prozent.
Doch lassen sich Paare zu lange Zeit und
entscheiden sich erst ab Mitte Dreißig für ein Kind, wird
das Zeitfenster schmal und die Biologie zum Risiko. Denn das Alter
einer Frau ist der wichtigste Indikator, ob es mit dem Kinderwunsch
noch klappt - und der Hauptgrund, warum die Zahl der
künstlichen Befruchtungen in Deutschland stetig steigt. Rund
50.000 Paare haben 2002 in Deutschland versucht, mithilfe der
Reproduktionsmedizin Eltern zu werden. Vor sechs Jahren waren es
nur halb so viele, vor 16 Jahren nicht einmal ein Zehntel. Zwischen
zehn und 15 Prozent aller Paare haben Probleme mit dem
Elternwerden, das heißt sie warten mindestens ein Jahr
vergeblich auf eine Schwangerschaft. Weitgehend unbemerkt von der
Öffentlichkeit hat sich ungewollte Kinderlosigkeit zu einem
stillen Volksleiden entwickelt, zu einer Alterskrankheit der
besonderen Art.
Fragt man, warum die Zahl der
In-Vitro-Fertilisation-Behandlungen (IVF) so rasant gewachsen ist,
so gibt es noch einen zweiten Grund: Der Nachfrage steht ein
Angebot von Praxen gegenüber, die bestrebt sind, ihren
Kundenstamm zu verbreitern. Manfred Stauber, ein
Reproduktionsmediziner der ersten Stunde, schrieb bereits 1996 in
einem Gutachten für das Bundesgesundheitsministerium:
"Patientenpaare fragen oft mit großer Ungeduld nach der
erfolgversprechendsten Behandlungsmethode und fordern diese
häufig mit grenzenloser Risikobereitschaft und ohne
Rücksicht auf Kosten in den Spezialpraxen ein. Ärzte
begeben sich dabei nicht selten in eine unheilvolle Allianz - nicht
zuletzt aus profitorientierten Gründen."
Mittlerweile bevölkern mehr als eine
Million Menschen die Welt, die nicht im Mutterleib, sondern per IVF
im Labor entstanden sind. In den USA, wo nahezu alles erlaubt ist,
leben Kinder mit fünf Elternteilen: dem Samenspender und der
Eizellgeberin als den genetischen Erzeugern, der biologischen
Mutter, die das Kind ausgetragen hat, sowie den sozialen Eltern,
bei denen das Kind aufwächst. Babymachen nach der
Baukastenmethode.
Zugleich eröffnet die Medizin immer neue
Chancen, nicht nur irgendein Kind, sondern ein gesundes Kind zu
bekommen. Die Pränataldiagnostik schuf mit Ultraschall und
Fruchtwasseruntersuchung die Möglichkeit, behinderte Kinder im
Mutterleib zu erkennen und abzutreiben. Die
Präimplantationsdiagnostik (PID) verlegt den Test,
unerwünschte Krankheiten aufzuspüren und zu vermeiden,
zeitlich bereits kurz hinter die Zeugung. Auch das Geschlecht ihres
Kindes können sich Eltern dank PID mittlerweile bereits
aussuchen. In Deutschland freilich ist das verboten. Schon ist es
denkbar, werdendes Leben durch Eingriffe ins Erbgut zu reparieren -
oder gar zu veredeln. Wie in einem Restaurant, verheißt der
Biologe und Buchautor Robin Baker, werden die Menschen in Zukunft
einem Menü gleich auswählen, in welcher Konstellation sie
ihr Erbgut kreuzen und welche genetischen Eigenschaften ihr
Nachwuchs tragen soll.
"Neunmonatiges Risiko"
Solche Spekulationen werden von allen
seriösen Fruchtbarkeitsmedizinern zurückgewiesen.
Realität ist jedoch, dass immer mehr Paare ihren Nachwuchs -
in erster Linie aus Angst vor Behinderungen - vor der Geburt testen
lassen. Drei Ultraschallbefunde, optionaler Bluttest bei der
Mutter, im Verdachtsfall Punktion des Mutterkuchens oder Kontrolle
des Fruchtwassers gehören heute zum Standardangebot
vorgeburtlicher Untersuchungen. Insbesondere die Zahl der
Fruchtwasseruntersuchungen ist in den vergangenen drei Jahrzehnten
steil angestiegen: von 1.796 im Jahr 1976, als die staatlichen
Krankenkassen die Kosten des Eingriffs übernahmen, auf 15.888
bereits 1982. Zurzeit werden rund 80.000 Diagnosen pro Jahr
gestellt. Längst sind es nicht mehr nur
Spätgebärende, die den Chromosomencheck machen lassen.
Spricht man mit Frauen, die vor 40 Jahren ihre Kinder bekamen, kann
sich kaum eine an eine Angst erinnern, ein geschädigtes Kind
zu bekommen. Heute ist die Sorge um das Ungeborene ein
zuverlässiger Begleiter der Schwangerschaft. Aus dem Zustand
der guten Hoffnung wurde ein neun Monate währendes
Risiko.
Martin Spiewak ist Redakteur bei der
"Zeit".
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