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Alva Gehrmann
Die permanente Steigerung
Von der Erlebnisgesellschaft zur
Sinnsuche
Es gibt Freunde, die schaffen es einfach nicht mehr anzurufen.
Statt dessen werden Mails oder SMS verschickt. Nicht eine, sondern
meist gleich fünf am Tag. Kontakt halten ist ihnen wichtig,
aber real treffen, etwa im Café, dafür ist keine Zeit
mehr. Und so piept ständig das Handy: "Huhu, geht's dir gut?
Bis bald." Konkreter wird es nicht, sonst müsste ein Termin
ausgemacht werden, und der ohnehin prall gefüllte
Terminkalender würde vermutlich platzen.
Hatte man früher zwei bis drei gute Freunde, so ist heute
das Netz durch wechselnde Jobkontakte und neue Hobbys wesentlich
größer. Das führt zu Entscheidungsstress. Bei wem
hat man sich schon lange nicht mehr gemeldet? Wem sollte man
wenigstens mal wieder eine Mail schicken? Wem eine SMS?
Wir leben im Zeitalter der zahllosen Möglichkeiten: Denn es
gibt nicht nur mehr Kontakte, sondern auch Angebote. Das
Berufsleben ist meist schon stressig, in der Freizeit geht es
weiter. Auf der "To Do"-Liste stehen neben Einkauf und Haushalt
noch Termine an wie: den neuesten Kinofilm ansehen, das angesagte
Restaurant testen, und natürlich regelmäßig zum
Sport gehen - um gut auszusehen, fit zu sein.
Die Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist im
Kommunikationsstress und Dauereinsatz. 24 Stunden aktiv sein, um
dann festzustellen, wieder etliche Punkte auf der Liste vergessen
zu haben. Ein Leben in der Endlosschleife. Die Medien heizen das
weiter an. So zeigen Boulevardmagazine à la "Explosiv" (RTL),
dass es nicht mehr nur reicht, eine gute Figur zu haben, auch der
Bauchnabel muss kerzengerade sein. Ist er es nicht, hilft nur eins:
eine Schönheits-OP.
Perfekt sein, frisch und erholt aussehen, außerdem
ständig verrückte Dinge tun. Dabei kann mit
Bungee-Jumping heute kein Arbeitskollege mehr beeindruckt werden,
ebenso wenig mit einem Tattoo. Und zum Golfen nach Florida fliegen
heute selbst Buchhalterinnen. Höher, weiter, schneller - geht
fast nicht mehr. Die Erlebnisgesellschaft am Rand des
Kollapses.
Wofür das alles?, fragen sich zunehmend Eventgestresste.
Sie sind überfordert: Zum einen von den ständig
zunehmenden Angeboten, zum anderen, weil das Geld knapper wird. Sie
können und wollen nicht mehr bei jedem Trend dabei sein. Also
besinnen sie sich wieder auf entspanntere Freizeitaktivitäten
wie Fahrradfahren, Kochen und Bücher lesen.
Je hektischer das Alltagsleben wurde, desto mehr entstand die
Sehnsucht nach Ruhe, nach Faulenzen und Nichtstun, charakterisiert
auch Freizeitforscher Horst Opaschowski den Wandel der
Freizeitvorlieben. Seit 1979 ist Opaschowski Wissenschaftlicher
Leiter des BAT Freizeit-Forschungsinstituts. In der aktuellen
BAT-Studie stellt er fest: "Über wichtige Dinge reden oder
einfach den eigenen Gedanken nachgehen, gehören zu den
regelmäßigen Freizeit-Beschäftigungen, die Spaß
machen und Sinn haben."
Die Gesellschaft begibt sich auf Sinn- und Entspannungssuche.
Gingen früher gestresste Manager in der Freizeit zum Boxen, um
sich abzureagieren, zieht es sie heute eher ins Yoga-Studio. Bikram
Yoga ist der neueste Trend aus den USA. Bei 38 Grad Celsius
schwitzen ausgepowerte Menschen ihre Gifte aus, um nach 90 Minuten,
so versprechen es die Bikram-Yoga-Trainer, ein anderer Mensch zu
sein. Oder sie gehen ins Kloster - nehmen sich hier eine Auszeit
von der 24-Stunden-Gesellschaft.
Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert? Diese
Frage stellt sich auch Gerhard Schulze in seinem Buch "Die beste
aller Welten". Der Professor für Soziologie an der
Universität Bamberg und Autor des Buchs "Erlebnisgesellschaft"
(1992) entwirft das Bild einer Gesellschaft, die nicht mehr vom
Prinzip der permanenten Steigerung dominiert wird. Denn wer braucht
noch ein neues Waschmittel? Ein noch schnelleres Auto? Das
"Steigerungsspiel" werde immer absurder - Erschöpfung trete
ein.
Gerhard Schulze glaubt an den neuen "Common Sense". Das
Bewusstsein einer hoch entwickelten Gesellschaft, die sie sich vom
Prinzip des ewigen Weiterschreitens verabschieden muss, um ihre
Zukunft in den Griff zu bekommen. Das Individuum entscheide
zunehmend selbst, was es aus seinem Leben macht. Im 21. Jahrhundert
gibt es ohnehin nicht mehr den einen Lebensweg: vielmehr ist es
normal, sein Leben mehrfach umzustellen - sei es im Beruf oder im
Privatleben. "Gerade deshalb ist es heute immer wichtiger, intensiv
darüber nachzudenken, was man aus seinem Leben machen will",
sagt Schulze. "Und Fehler zu korrigieren."
Eine Sinnsuche, die auch wieder im Entscheidungsstress enden
kann. Denn was ist schon ein sinnvolles Leben? Manche finden ihren
Sinn in sozialem Engagement, helfen ehrenamtlich im Sportverein
oder kochen in der Wärmestube Suppen für Obdachlose. Jede
weitere Qualifikation kann wichtig sein, um konkurrenzfähig zu
bleiben. Erst recht auf dem hart umkämpften Arbeitsmarkt.
Workaholics sind dennoch out. Zukunftswissenschaftler Horst
Opaschowski sieht die junge Generation auf dem Weg zu einer neuen
Lebensbalance. "Leistung und Lebensgenuss sind für sie keine
Gegensätze mehr", sagt er. Arbeit soll auch Spaß machen,
sie haben Lust etwas zu schaffen, wollen weder über- noch
unterfordert werden.
"Arbeiten wie die Eltern - festangestellt und mit geregeltem
Feierabend", so wünschen sich nach einer
Repräsentativuntersuchung des BAT auch im 21. Jahrhundert noch
über 70 Prozent der Berufstätigen ihren Arbeitsalltag. Es
wird für viele ein Wunsch bleiben: Flexibel sein, jederzeit
erreichbar, so sieht wohl der realistischere Alltag aus. Im Jahr
2004 nehmen viele den Job, der ihnen geboten wird. Da selbst
große Unternehmen Outsourcing betreiben, neue Mitarbeiter nur
Zeitverträge erhalten, steigt die Zahl der Jobnomaden. Wer das
eine Jahr in Bielefeld arbeitet, kann im nächsten Jahr schon
wieder in Rosenheim sein.
In Bewegung bleiben, heißt die Devise. Das wird selbst
innerhalb einiger Unternehmen praktiziert, zum Beispiel bei der
Werbeagentur Jung von Matt (JvM), die unter anderem Kampagnen
für Sixt und "Bild" entwirft. "Regelmäßig ziehen bei
uns alle Mitarbeiter innerhalb des Hauses um", sagt Merel Wouters
von JvM, "damit wir immer wieder eine neue Perspektive haben."
Einen neuen Blick - aus dem Fenster und auf die Arbeit. Die
Büroräume selbst jedoch sind alle gleich eingerichtet:
Wände bleiben weiß, es werden keine Poster oder Fotos
aufgehängt, auch Teddybären auf dem Schreibtisch sind
verpönt. "Wir wollen hier arbeiten und uns nicht häuslich
einrichten."
Jedes Unternehmen besitzt seine eigene Philosophie, an die sich
der Mitarbeiter zu gewöhnen hat. Bei Sportartikel-Unternehmen
wie Adidas gehört es zum guten Ton, bei sportlichen
Aktivitäten, etwa einmal im Jahr beim Marathon, teilzunehmen.
Die Realität der heutigen Arbeitswelt gleiche einer
"Viel-Gesichter-Gesellschaft", sagt Horst Opaschowski. Und
beschreibt sie so: "Mal Ellbogen- und mal
Verantwortungsgesellschaft, mal Wegwerf- und mal
Leistungsgesellschaft." Ein bisschen von allem. Und immer wieder
anders.
Individuell gestaltet sich die Gesellschaft auch ihren privaten
Lebensentwurf: Sei es ohne Trauschein zusammenzuleben oder mit
über 30 Jahren noch in einer Fünfer-WG zu leben. So wohnt
ein Lehrerpaar heute selbstverständlich gemeinsam mit drei
Mitbewohnern in einer Villa.
Die Art, wer wie mit wem zusammenlebt, mag sich geändert
haben, die zwischenmenschlichen Werte jedoch sind gleichgeblieben:
etwa der Wunsch nach beständigen Beziehungen. Die junge
Generation sehnt sich nach einer eigenen Familie - auch Kinder sind
nicht mehr verpönt. "Es ist noch nicht so lange her, da wurden
Frauen für blöd erklärt, wenn sie sich für
Kinder und nicht für die Karriere entschieden haben", sagt
Soziologe Gerhard Schulze.
Heute ist es sogar trendy, Mutter zu werden. Das Magazin "Max"
entdeckte kürzlich die "Funky Mama": "Die neuen Mütter
sind attraktiv, sexy und selbstbewusst. Kinder sind in, Mutter zu
werden ist hip", heißt es in einem Artikel. Prominente wie
Sarah Jessica Parker, Hauptdarstellerin der US-Serie "Sex and the
City", leben es vor, sie laufen selbst hochschwanger in Highheels
durch New York.
Designerin Elin Sandal, 34, hat in London die Firma "Funky Mama"
gegründet, sie macht coole Mode für Schwangere. Etwa ein
T-Shirt mit der Aufschrift "No, I'm not fat". Über
30-Jährige zeigen gerne ihren Bauch, zelebrieren ihre
Schwangerschaft. "Kinder bedeuten nicht mehr automatisch den
Abschied vom Spaß im Leben", weiß die "Max". Und wenn
Stil-Ikonen schwanger sind, werden Kinder zu einer Art Accessoire,
das jeder haben will. Designer Elin Sandal ist sich sicher:
"Früher wollten alle die Gucci-Handtasche, heute wollen alle
das Gucci-Baby."
Typisch für die Generation des 21. Jahrhunderts. Es reicht
nicht mehr, einfach "nur" Kinder zu bekommen. Nebenbei sollte die
Schwangere noch gut gestylt sein, am besten bis zum achten Monat
der Schwangerschaft fulltime arbeiten, um dann drei Monate nach der
Geburt wieder weiterzumachen. Das Baby versorgt in dieser Zeit der
moderne Vater. So kommen die, die ihren Sinn in der Gründung
einer eigenen Familie gefunden haben, schnell wieder in den
24-Stunden-Stress. Die einzige Lösung, dem zu entkommen, ist
sich unabhängig von den perfekten Familienbildern und
Gesellschaftsdefinitionen zu machen.
Alva Gehrmann ist freie Journalistin in Berlin.
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