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Matthias Wolfschmidt
Skandale beim Essen sind eine leicht verderbliche
Ware
"Ich habe GESUNDigt." Sie auch? Wie unser
täglich Brot zur Geschmacksillusion wird
Für die Vertreibung aus dem Paradies
reichte ein einziger Apfel. Deutsche Supermärkte,
gewissermaßen die Fortsetzung des Schlaraffenlandes mit
anderen Mitteln, bieten heutzutage eine Handvoll verschiedener
Apfelsorten an. Vor nicht allzu langer Zeit gab es deren noch
Hunderte. Vorbei, durch`s Logistikraster der Handelsgötter
gefallen.
Zum Trost haben die uns Früchte aus
aller Welt geschenkt. Und sich selbst, ganz nebenbei, Lagerung und
Transport erleichtert. Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich die
Welt für deutsche Gaumen und Mägen so grundlegend
verändert wie nie zuvor. Ob Nasi Goreng, Gyros, sieben mal
sieben verschiedene Nudelsorten, kartonverpacktes
Tomatenpüree, folienverschweißtes Fleisch,
gefriergetrocknete Früchte oder halbgare Aufbackwaren. Nie
zuvor hatte unser täglich Brot so viele und - nüchtern
betrachtet - so wunderliche Antlitze wie heute. Nie zuvor konnten
seine Eigenschaften durch zahlreiche Aromen, Farb- und Zusatzstoffe
und technologische Kniffe nahezu beliebig gestaltet
werden.
"Wer würde schon eine Welt retten
wollen, in der es nur noch Tütensuppen gibt?", fragte der
Filmkritiker Georg Seeßlen sich und seine Leserschaft vor
einiger Zeit. Bereits 1886 schenkte Erfinder Julius Maggi der Welt
die erste Fertigsuppe und traf vor allem den Bedarf der im Zuge der
Industrialisierung in die Städte geströmten Massen.
Binnen zweier Jahre soll das Angebot bereits auf zweiundzwanzig
Sorten angewachsen sein.
Fertig konfektionierte Lebensmittel machen
inzwischen die eigenhändige Zubereitung selbst einfachster
Gerichte überflüssig. Längst gibt es Pfannkuchenteig
als Brei-im-Beutel fertig zu kaufen. Zwischen dem weit verbreiteten
Anspruch, sich gesund, leicht, bekömmlich und frisch zu
ernähren, und dem real existierenden Küchenelend klafft
eine immer größere Lücke. Dass die auch vor
Bio-Käufern nicht halt macht, lehrt ein Blick in die
Ökoläden. Vorgefertigte "Convenience"-Produkte und Snacks
haben längst die ehedem puristischen Regale
lebensmitteltechnologisch in Stand besetzt. Kochen ist nicht nur
bei Singles, sondern auch in immer mehr Familien eher die Ausnahme
denn die Regel. Und statt des Dunstabzugs schalten wir die Glotze
ein, um uns fehlende eigene Schnippelerfahrungen von fingerflinken
Fernsehköchen vorführen zu lassen.
Die Anschaffung kaum genutzter
Designerküchen ist zwar prestigeträchtig, wirkt aber wie
das möbelgewordene schlechte Essens-Gewissen. Familien,
Landstriche und ganze Nationen wurden und werden bis heute mit
bestimmten Rezepten oder Spezialitäten in Verbindung gebracht.
Doch kaum jemand bringt die Gerichte noch selbst zustande.
Während zwischen einzelnen Regionen lautstarke
Scharmützel um die Frage ausgefochten werden, in wessen
Küchen der erste Sauerbraten eingelegt wurde, scheint
klammheimlich die Zeit seiner allerletzten Zubereitung anzubrechen.
Egal ob im Rheinland oder in Schwaben.
Jeder mittelmäßige Supermarkt hat
heute rund 20.000 Artikel gelistet. Scheinbar alles ist
überall und jederzeit zu haben. Die Hersteller buhlen bei den
mächtigen Handelsketten um die lukrativsten Regalmeter. Wer
keine großzügigen Werbeaktionen verspricht, muss leider
draußen bleiben - oder in die unteren Regaletagen. Dem
Tiefkühlspezialisten Frosta gelang es zwar, seine
Fertiggerichte ohne Geschmacksverstärker und sonstige
Zusatzstoffe zu fabrizieren, aber der Durchbruch im Supermarkt
blieb aus. Im Kampf um die Kühltruhen unterlag er jenen
Mitbewerbern, die über die größeren Werbebudgets
verfügen. Reklamemacht geht nun mal vor
Produktqualität.
Zweieinhalb Milliarden Euro pumpt die
Ernährungsindustrie jedes Jahr in die Werbung, rund ein
Viertel davon für Süßwaren. Die Produkte können
noch so zucker- und fettreich sein, als "Kinderlebensmittel"
beworben versprechen sie Extraprofite. Die angebliche "Extraportion
Milch" in so genannten Kindermilchriegeln besteht aus Milchpulver,
Butterreinfett und Zusatzstoffen wie Emulgatoren, Aromen,
bedenklichen Farbstoffen und Konservierungsmitteln. Der
Zuckergehalt wird auf dem Etikett geschickt hinter der Bezeichnung
"Kohlehydrate" versteckt. Ein neunjähriges Kind müsste,
um seinen Tagesbedarf an Kalzium zu decken, 17 Milchschnitten essen
- und würde damit gleichzeitig 40 Stück Würfelzucker
und ein halbes Paket Butter zu sich nehmen!
Wen nimmt es da Wunder, dass inzwischen
bereits die Bauchspeicheldrüsen fünfjähriger,
überfütterter Kinder vor derartigen Kalorien-Exzessen
kapitulieren. Dieses landläufig als Altersdiabetes bezeichnete
Phänomen ereilte bislang Menschen in der zweiten
Lebenshälfte. Ratlos fragt man sich, was Eltern umtreibt, die
ihren Kindern süße und noch dazu teure Snacks statt Apfel
und Pausenbrot in die Schultaschen stecken. Während die
Politik die Ernährungsbranche an runde Tische und McDonald`s
die bewegungsscheue Kundschaft zum Einsatz eines Schrittmessers
einlädt, wähnen andere sich einen Schritt weiter. So zum
Beispiel Nestlé mit ihrer "Nutrel" getauften neuen Palette an
"functional foods". Deren "funktioneller" Zusatznutzen soll Genuss
ohne Reue sein. Die dazugehörige Werbebeichte "Ich habe
GESUNDigt" liefert die Absolution gleich mit.
Die Logik industrieller Produktionsprozesse
gilt längst für die Herstellung der Mehrzahl aller
Lebensmittel. Hoch spezialisierte Zulieferer bieten
ballaststoffreiches Gummi Arabicum statt schlichter Kleie für
den Müsliriegel oder getrocknetes Olivenöl in Pulverform
fürs Aufbackbrötchen im angesagten Ciabatta-Style. Farben
aus umfangreichen Katalogen sorgen für ein perfektes
Essens-Make-up, das sogar Bratrohr oder Mikrowelle übersteht.
Was immer wir beim Essen zu riechen, sehen oder schmecken glauben,
kann simuliert, synthetisiert oder sonst wie
lebensmitteltechnologisch herbeigezaubert werden. Das fängt
beim Rohstoff an. Bereits dem Tierfutter werden appetitanregende
Aromen und Geschmacksverstärker beigemischt. Aus
süßen, kleinen Ferkeln werden so dank täglicher
Gewichtszunahme von 800 Gramm in Windeseile Schnitzel, Schinken und
Knackwurst.
Die annähernd 6.000 Unternehmen der
deutschen Ernährungsindustrie erwirtschaften mit rund einer
halben Million Mitarbeitern einen Jahresumsatz von
128 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Die
gesamte deutsche Automobilindustrie bringt es auf etwa 200
Milliarden Euro. Weitgehend unbehinderter Import von
unverarbeiteten Rohstoffen aus aller Welt bei gleichzeitiger
Abschottung des EU-Binnenmarktes für verarbeitete Lebensmittel
verschaffen willkommene Marktvorteile.Während private
Haushalte für Lebensmittel vor 50 Jahren fast die Hälfte
ihres verfügbaren Einkommens ausgeben mussten, reicht heute
ein Achtel aus. Die dadurch anderweitig verfügbare Kaufkraft
half der Nachkriegswirtschaft auf die Beine. Verpackte Käse-
und Wurstscheiben galten vor dreißig Jahren als Zeichen des
Fortschritts und die vermittels "Ultrahocherhitzung" dauerhaltbar
gemachte H-Milch im Karton eroberte zunächst die Supermarkt-
und dann die heimischen Vorratsregale.
Kulinarische Reisemitbringsel wie Pizza,
Pasta und Co. wurden zunächst am heimischen Herd nachgekocht,
mutierten inzwischen jedoch, ebenso wie Türkisches und
Asiatisches, zu Tiefkühlklassikern. Lange bevor die
deutsch-deutsche Soljanka-Grenze fiel, hatte, wer im Westen etwas
auf sich hielt, von Sushi mindestens gehört und Olivenöl
längst in die eigene Küche integriert. Gastronomische
Vorlieben folgen nicht nur dem Wechsel der Moden, sie gehören
für manch einen zur imageträchtigen Performance. In
welcher Verkleidung typisch deutsche Küche wieder en vogue
kommt, entscheiden womöglich die heutigen
Bärlauch-Avantgardisten in der übernächsten
Saison.
Trends wie Skandale sind beim Essen leicht
verderbliche Ware. Nur ein paar Jahre ist es her seit der
Rinderwahnsinn Hochsaison in Europa hatte. Am Anfang der BSE-Krise
standen unverantwortliche Sparmaßnahmen bei der Beseitigung
von Tierkörpern in Maggie Thatchers privatisiertem
Königreich. Das gesamte Ausmaß von BSE aber ist die Folge
des Versagens der europäischen Politik auf nahezu allen
Ebenen. Die hat zwischenzeitlich immer wieder Besserung gelobt.
Doch da auch andere Lebensmittelskandale nach ähnlichen
Mustern ablaufen, ist mehr als Skepsis angebracht. So lautstark die
Entrüstung der Politiker und das mediale Raunen über den
Nitrofenskandal im Frühsommer 2002 gewesen sind, so sang- und
klanglos durfte die ermittelnde Staatsanwaltschaft ihre
Bemühungen Ostern 2004 einstellen, ohne dass irgendjemand zur
Verantwortung gezogen worden wäre.
Jahrzehntelang rührten Politik und
Ernährungswirtschaft nämlich jenen sinnestäuschenden
Brei an, den wir heute in nahezu beliebigen Variationen mampfen.
Wie zum Beispiel so genannten Erdbeerjoghurt, der in Wahrheit nur
den Bruchteil einer tatsächlichen Erdbeere enthält,
seinen Geschmack australischen Holzspänen und seine Konsistenz
nicht gemächlicher Reifung, sondern allerlei Zusatzstoffen
verdankt.
Am Anfang stand die Verheißung, dass
Nahrungsmittel immer billiger hergestellt werden könnten, ohne
an Güte und Wert einzubüßen. Lobbyisten und
Gesetzgeber haben deshalb über Jahre hinweg standardisierter
Massenware den Weg förmlich planiert. Gewürzt mit EU-weit
jährlich 40 Milliarden Subventions-Euro und versteckt hinter
klein gedrucktem Etikettenkauderwelsch entstand eine beklagenswerte
Mischung aus massenhafter Arbeitsplatzvernichtung auf dem Land und
beim Ernährungshandwerk, Preisillusion bei den Konsumenten und
Qualitätsbeliebigkeit bei den Produkten. Was wir aber brauchen
sind Regeln und Gesetze, die den Wettbewerb um echte und wahre
Qualität fördern und entsprechend engagierte Produzenten
belohnen. Regeln, die den Lebensmittelhandel zu klarer und
allgemeinverständlicher Kennzeichnung zwingen. Damit wir
billige Kunstfarbe von echter Fruchtfarbe unterscheiden
können. Damit wir wissen, woher der Geschmack auf der Pizza in
Wahrheit kommt. Damit wir erfahren, welche Pestizide in welchen
Mengen in welcher Winterpaprika oder Früherdbeere stecken.
Damit wir unterscheiden können, wann ein billiges oder teures
Angebot wirklich preiswert ist. Die Qualität unseres Essens
ist längst eine politische Angelegenheit geworden, nicht erst
seit der Debatte um Gentechnik. Vielleicht, dass wir in einen Apfel
beißen müssten, um zu erkennen...
Matthias Wolfschmidt arbeitet bei der
Verbraucherorgansiation foodwatch.
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