|
|
Ulrike Grropp
Auf der Suche nach dem digitalen
Schöpfungsakt - ein bisschen wie der liebe Gott
Avatare und der Glaube an bessere
Menschen
Ray Kurzweil war auf dem Höhepunkt des Internet-Booms ein
Medienstar. "Im Jahre 2020, spätestens jedoch 2040", so wurde
der Amerikaner nicht müde zu behaupten, "sind Mensch und
intelligenter Computer nicht mehr voneinander unterscheidbar". Das
menschliche Gehirn werde man bis dahin an einen Chip
anschließen können, die Inhalte quasi als Sicherung
abspeichern und Neues "aufspielen". Robotikgurus wie Hans Moravec
stellten Utopien aus dem Grenzbereich von Wissenschaft und
sciencefiction als Fakten hin: Virtuelle, menschenähnliche
Gestalten würden schon bald autonom, Wunderwesen aus Silizium
und Metall demnächst gleichberechtigt mit Fußballstars
aus Fleisch und Blut "in der Championsleague kicken".
Solche Verheißungen waren der Stoff, aus dem die
(Börsen-)Träume der späten 90er-Jahre gewoben
wurden. "Auf einmal wollte alle Welt Avatare und andere virtual
characters haben, fast jeder Preis wurde bezahlt. Vor allem in der
Werbebranche fuhr man auf diese Ästhetik ab", erinnert sich
Olaf Schirm von der Kölner Firma No DNA. Das inspirierte
Macher zu geistigen Höhenflügen, gelegentlichen
Abstürzen und manchmal auch zu atemberaubenden Szenarien. Etwa
derjenigen von "virtuellen Führungskräften", die von
einem zentralen Server aus, egal ob in Rom, Tokio oder Toronto,
Verkaufsmitarbeiter und Servicekräfte in der jeweiligen
Landessprache schulen, motivieren und gegebenenfalls auch
maßregeln könnten. "Der Einsatz von Menschen, von
menschlicher Arbeitskraft, wird auf das Nötigste reduziert",
gab der Avatarentwickler Rafael Martinez im Sommer 1999 zu
Protokoll, während er in München für Siemens an
einem künstlichen Chef namens "Netman" arbeitete. "Es
entstehen Figuren, die gleichzeitig überall sind und alles
sehen können - ein bisschen wie der liebe Gott".
Um von einem real existierenden Menschen einen digitalen
"Abguss" herzustellen, haben Filmproduktionsfirmen und
spezialisierte Agenturen seit Mitte der 90er-Jahre eine
Multimediaausstattung. Deren Herzstück ist ein Datenanzug. Wie
ein Taucher in seine Neoprenhaut wird der "echte" Mensch in diese
mit Sensoren versehene Hülle hineingesteckt. Bewegung, Atem
und vor allem auch die Mimik können mithilfe
ausgeklügelter Technologien aufgezeichnet werden. Die so
generierten Daten werden dann am Computer bearbeitet, verfremdet,
idealisiert. Und so wird aus einem kleinen Hüpfer des Modells
im Studio ein lebensecht wirkender Sprung auf einen Baum, ein
Häuserdach oder gar auf den Mond. Wirklich beeindruckend wird
das Ganze dadurch, dass die virtuellen Schauspieler nach ihrer
Verwandlung wieder in die realen oder ebenfalls computeranimierten
Filmszenerien eingebaut werden. Für die (Action-)Filmindustrie
eröffneten dies Ende der 90er-Jahre ungeahnte illusionistische
Möglichkeiten.
Zur Frage, wohin der Einsatz von Avataren führen und wie
sich das Menschsein angesichts dieser Techniken in Zukunft noch
definieren lassen würde, fanden die Protagonisten der Szene
erst im neuen Jahrtausend. Da hatten sie auf einmal Zeit zum
Grübeln. Mit dem Kollaps des Neuen Marktes, spätestens
jedoch nach dem 11. September brachen auch die Investitionen in und
die Geschäfte mit den virtuellen Charakteren ein. Und auch die
Bereitschaft, für Avatar-Welten monatliche
Zugangsgebühren von mindestens 25 Euro zu bezahlen, ließ
in der beginnenden Rezession nach, zumal sich mit ständig
steigender Rechnerleistung und verbesserten Programmen jeder
Computerfreak sein virtuelles Alter Ego basteln konnte. Das
eigentliche Ende des Hypes um Avatare hatte vermutlich jedoch vor
allem inhaltliche und ästhetische Gründe. Nachdem die
Techniker vorgeführt hatten, was sie konnten, ließ das
Interesse des anfangs staunenden und begeisterten Publikums schnell
nach. Und die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle und
Anwendungsmöglichkeiten kam mit dem Tempo der technischen
Entwicklung nicht mit. Die Suche nach längerfristig
marktfähigen Anwendungen für virtuelle Charaktere und
Avatare stellte sich als überaus schwierig heraus.
Zwar hatte, parallel oder schon vor den Entwicklungen im
kommerziellen Bereich, eine lebhafte (Drittmittel-) Forschung an
Universitäten und Instituten begonnen, teilweise
gefördert von der EU und in internationalen
Kooperationsprojekten. Dort suchten Forscher wie der Hamburger
Linguistikprofessor und Sprachwissenschaftler Rolf Schulmeister
nach sinnvollen Einsatzmöglichkeiten für künstliche
Wesen aus dem Rechner. In seinem Institut für
Gebärdensprache an der Universität Hamburg war
frühzeitig eine gute Idee entstanden: Man wollte die
technischen Möglichkeiten von Spracherkennungsprogrammen mit
der gestischen und mimischen Ausdrucksfähigkeit von Avataren
zusammenspannen, um Gehörlosen zu helfen. Fernziel der
Forscher: die Entwicklung komplexer Methoden der
rechnergestützten Linguistik, um gesprochene Sprache und
schriftliche Texte in eine maschinenlesbare und verständliche
Form zu verwandeln. Sie träumen davon, Gehörlose eines
Tages mit einem tragbaren Computer ausstatten zu können, der
für sie in und aus der Gebärdensprache dolmetscht.
Als erstes Ergebnis entstand die virtuelle
Gebärdendolmetscherin "Tessa". Im Testversuch in fünf
britischen Postfilialen, darunter das zentrale Londoner Amt in der
Nähe von Trafalgar Square, hinterließ der Avatar, der auf
PC und Bildschirm vor und hinter dem Postschalter lief, bei den
Nutzern "einen guten Eindruck". Nach Auskunft von Judy Tryggvason
von der University of East Anglia in Norwich ergab die Evaluierung,
dass die Gehörlosen es "extrem nützlich fanden, dass sie
die Rückfragen der Schalterbeamten verstehen konnten". Sie
hätten nur bedauert, dass "Tessa" ihre Antworten an die
Postbeamten noch nicht aus der Gebärdensprache in gesprochenes
Englisch zurückübersetzen konnte. Der geplante
reguläre Betrieb des Systems in britischen Postämtern
scheiterte dann allerdings an einer Finanzkrise der britischen
Post.
Der deutsche Projektpartner, Gebärdensprachexperte Rolf
Schulmeister, beklagt, dass viele Forschungsansätze zwar bis
zur Anwendungsreife geführt, dann aber fallen gelassen
würden. "Die Technologieentwicklung geht in rasantem Tempo
weiter, aber die Drittmittel brechen ein", berichtet der
Avatar-Experte, "und die Universitäten sind nicht bereit und
in der Lage, weiter Personal und Geld bereit zu stellen". Mit Ende
der öffentlichen Förderungen stünden viele für
teures Geld entwickelte Technologien ohne Markt da: zu teuer
für die Anwender, für Unternehmen nicht profitabel genug.
"Es ist typisch für die gegenwärtige Lage", sagt
Schulmeister, "dass wir ein aufwendiges computergestütztes
Lernsystem entwickeln, bei dem Avatare die Rolle von Lehrern
für Gebärdensprache übernehmen, doch
anschließend stellt sich heraus, dass der Markt zur Zeit noch
nicht genug hergibt". Nun droht dem Projekt das endgültige
Aus. Es ehrt die Erfinder, dass sie ihre Technologie einer
niederländischen Gehörloseninitiative angeboten haben,
die damit im Internet eine Wettervorhersage für Gehörlose
betreiben kann.
Auch bei Olaf Schirm hat sich Ernüchterung breitgemacht,
obwohl er seine Firma No DNA über die Krise retten konnte. "Wo
hochbezahlte Computerdesigner und ihre Auftraggeber vor einigen
Jahren noch wochenlang über die Gestaltung eines
Ohrläppchens oder über die Oberweite eines virtuellen
Stars debattierten, ist die Phantasielosigkeit des Sparens
eingekehrt", sagt Schirm. Gefragt seien Avatare zurzeit vor allem
von Firmen, die ihrem Online-Angebot eine persönliche Note
geben wollen, ohne Personal einzustellen. Gebaut würden vor
allem konventionelle Figuren, Buchhalterinnen im Business-Dress,
angepasst und bloß nicht zu sexy. Es sind Figuren wie aus dem
Legokasten.
Wer einen Blick auf die gestalterisch überaus bescheidenen
OnlineFiguren ("bots") wirft, die beispielsweise auf den Seiten der
Bundesagentur für Arbeit eingesetzt werden, und diese mit den
hyperrealistischen Avataren vergleicht, die durch
Online-Spiele-Welten reisen, wird Olaf Schirm recht geben. "Dort
erkennt man die Härchen auf der Haut oder eine Träne im
Auge", schwärmt Schirm, "wir können immer mehr. Doch
aufgrund der Marktsituation wenden wir zurzeit nur einen Bruchteil
unserer Fähigkeiten an." Angesichts einer Meldung aus Japan
kann man dies als Hoffnung auf bessere Zeiten - oder auch als
Drohung an die Spezies Mensch verstehen. Aus dem Inselreich kam vor
einiger Zeit die bislang nicht zu verifizierende Kunde vom
versuchsweisen Einsatz von Avataren und Roboter-Streicheltieren bei
der Betreuung dementer Senioren. Diese ließen sich - angeblich
- durch virtuelle Zuwendung genauso gut unterhalten und beruhigen
wie durch reale Altenpfleger.
Ulrike Gropp ist freie Journalistin in Leipzig.
Zurück zur
Übersicht
|