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Detlev Lücke
Aufgewachsen in Ruinen, mit dem Graubrot in der
Hand
Mangel war der Begleiter der Nachkriegskinder,
unter dem sie nicht allzu sehr litten
Früher seien die Sommer schöner
gewesen, und in den Wintern gab es mehr Schnee. Wer dieses als
Älterer sagt, wird gern der erinnernden Schönmalerei
geziehen. Vielleicht aber beruhen diese Feststellungen nur auf
einer schärferen Wahrnehmung aus den Zeiten des Nachkrieges,
als die heißen, trockenen Sommermonate Schutz boten vor den
trostlosen Winterwochen, in denen es nichts zu heizen und wenig zu
essen gab. Als die Berliner beispielsweise ihren schönen
Tiergarten beziehungsweise das, was von ihm übriggeblieben
war, in ihren Kanonenöfen verfeuerten, um es wenigstens ein
bisschen warm zu haben.
Die Großmutter bedeutete dem Enkel, ins
Schlafzimmer zu gehen. Dort lag der Großvater fest im Bett und
konnte nicht mehr sprechen. Wenn er etwas von der Großmutter
wollte, die meist im Garten war, pfiff er auf der Trillerpfeife.
Die war ihm vertraut, weil er bis Kriegsende als Turnlehrer
gearbeitet hatte und wegen seiner Lust zum Hauen von den
Schülern Strippser genannt wurde. Ich folgte dem Rat der
Großmutter und betrat ängstlich das Zimmer. Der
Gefürchtete zeigte wortlos auf ein kleines Vertiko am Fenster.
Sein Finger richtete sich auf eine Schublade. Die sollte ich
aufziehen. Der Finger machte eine kranartige Bewegung. Ich sollte
herausnehmen, was in der Lade lag. Es war ein in Stanniolpapier
eingewickeltes Päckchen. Der Finger befahl mir: Auspa-cken. Im
Stanniol lag ein schmaler Riegel Schokolade. Ich hatte bis zu
diesem Tag, als ich sechs Jahre alt war, noch keine Schokolade
gesehen, geschweige denn gegessen. Der Großvater signalisierte
mir schweigend, die vier Stückchen zu nehmen. Sie schmeckten
süß wie bitter und hingen mir am Gaumen. Sie hatten den
Großvater in einem Paket erreicht, das ihm alte Freunde aus
dem Tessin geschickt hatten.
1948 beschränkte sich unsere Nahrung vor
allem auf undefinierbares Graubrot und eine wöchentliche
Schüssel klumpiger Marmelade aus Obst und Tomaten. Meine
Mutter zog Kerben in das Brot, damit keiner mehr als die
vorgeschriebenen Scheiben essen konnte. Einübung von
Gerechtigkeit in Zeiten des Mangels. Die Marmelade holte sie in dem
kleinen Lebensmittelladen von Fräulein Schulz und
Fräulein Schröder, der sich im Erdgeschoss unseres Hauses
befand, das als einziges in der Straße die Bombenangriffe
überstanden hatte.
Die beiden älteren Fräuleins
bekamen ebenfalls ein Paket, aus den USA. Die darin enthaltene
Packung Wackelpudding überließen sie meiner Mutter, die
uns das ungewohnte Geschenk zubereitete. Ich hatte meine
Schüssel in kürzester Zeit geleert, während mein
Bruder den Löffel in den Pudding steckte und wieder herauszog
und ableckte. Das ging den ganzen Nachmittag so. Meine Mutter
schrie ihn an, wenn er nicht mit dieser Leckerei aufhöre,
werde sie ihm sein Schälchen wegnehmen. Er wolle doch auch
morgen noch was von dieser schönen Sache haben, meinte
er.
Haben wir in dieser Zeit irgendetwas für
unser späteres Leben gelernt? Schwer zu beantworten. Haben wir
den Zusammenhang von Werten und Konsum begriffen? Man vermisst
nichts, was man nicht kennt. Das Wort Konsum wurde auf der ersten
Silbe betont und stand für einen ziemlich leeren Laden,
über dessen mit Holz verkleideter Schaufensterscheibe Konsum
in dunkelroten Buchstaben angeschrieben stand.
Zu meiner Einschulung im Spätsommer 1948
lagen auf unseren Schulbänken für jeden Neuen ein Apfel,
eine blaue Pflaume und ein Brötchen aus weißem Mehl.
Für den, der nichts hat, sehr viel und des Merkens
würdig. Die große Schultüte war bis zum Rand mit
Zeitungspapier ausgestopft, nur die oberste Schicht bestand aus
Bonbons, vor allem aus so genannten Maiblättern, grün,
klebrig und sauer. Die Sorte kannte ich, weil sie uns schon einmal
von einem Russenpanzer heruntergereicht worden waren. Der kam mir
riesig vor, wie ich so mit meinen Freunden Ernst-Rüdiger Edel
und Helga Rusch davor stand. Unser Spielplatz waren die Ruinen der
zerstörten Mietshäuser, auf die Brandbomben gefallen
waren, so dass nur die schwarzen Fassaden stehen geblieben waren.
Wenn wir über die dahinter liegenden Schuttberge stiegen,
stießen wir manchmal auf kleine Gärten, die entweder die
Zerstörung überstanden hatten oder von irgendwelchen
Überlebenden, die wir nicht kannten, angelegt worden waren. In
ihnen wuchsen blaue Trauben und herrliche Äpfel, von denen wir
uns reichlich bedienten. Paradiese des Wachstums im Geruch
verkohlter Häuserbalken.
Heinrich Böll hat einmal von diesen
Paradiesen geschrieben, die die Kölner Trümmerlandschaft
seinen Söhnen um 1950 herum bot. Zu Recht bezeichnete er sie
als Stätten für Abenteuer, von denen unsere Eltern zu
ihrem Glück wenig wussten. Diese Ruinen waren steinerne Zeugen
der Nachkriegsanarchie, in ihnen verschwand manches Kind auf
Nimmerwiedersehen. Ich erinnere mich, wie ich mit
Ernst-Rüdiger Edel durch die völlig zerstörte
Listemannstraße lief, wo nicht einmal die Keller mehr zum
Wohnen taugten und aus denen plötzlich ein Mann mit einem
langen Messer auftauchte. Vielleicht hatte er nur Karnickelfutter
aus dem fetten Boden geschnitten. Wir liefen schnellstens weg und
kamen vor unser Haus mit dem Schrei: "Der Kindermörder, der
Kindermörder!" Idylle und Katastrophe wohnten in jenen Jahren
eng beeinander.
Ende 1948 zogen wir nach Berlin. Dort gab es
in der Schule so genannte Schwedenspeisung, dicke weiße Bohnen
und eine unvergleichliche Schokoladensuppe, deren Geschmack
derjenige, der sie gegessen hat, nicht vergessen wird. Wir kamen
mit Kochgeschirren und großen Töpfen mit Deckeln zum
Unterricht, um von den Kostbarkeiten auch noch die übrige
Familie zu erfreuen. Erst 1949, nach Gründung der DDR,
hörte der Spaß für die Ostberliner auf. Jetzt gab es
Brühnudeln und Blutwurst, und die Teilnehmer an der
Schulspeisung reduzierten sich rasch. Im Osten wurden die ersten
HO-Läden gegründet, in denen man markenfrei einkaufen
konnte. Schnell sang der Volksmund: "Tschia, tschia,tschia,tscho,
Käse gibt es im HO, anstehn musste bis nach Halle, wennde dran
kommst, ist der Käse alle." Der Mangel wurde als Basis frecher
Texte zum kulturellen Phänomen. Ein Begleiter bis zum Ende der
DDR, als nach deren Überwindung vielen endlich der Weg ins
Konsumparadies offen zu sein schien und die Werbung aus dem
Westfernsehen sich in den Regalen der Kaufhallen materialisierte.
Hatte es doch schon vorher geheißen: Ex Oriente lux, ex
Okzidente luxus. Markenfetischismus vernebelte Gehirne und machte
Zungen stumpf.
Sattessen ist für einen Hungrigen
ausreichender Genuss. Für mich bedeutete das 1948 an einem
Wintertag ein Glas heiße Milch, ein Butterbrötchen und
eine Bockwurst. Für den Gourmet eine gewagte Kombination,
für mich damals ein nicht zu überbietendes Festessen.
Erich Kästner hat diese Sensorien der Mangelgesellschaft in
seinem Tagebuch "Notabene 1945" beschrieben, als ihn sein neuer
Freund, der amerikanische Sanitätsfeldwebel Andy, besucht:
"Bevor er sich's am Tisch gemütlich macht, kramt er aus, was
er mitgebracht hat: Kaffee, Zigaretten, Schokolade, Zahnpasta,
illustrierte Zeitschriften und, in Feldpostformat, Romane,
Kurzgeschichten und sonstige Lektüre. Dabei freut er sich so
zurückhaltend wie möglich. Wir freuen uns viel
ungenierter. Falsche Töne gibt es nicht."
Diese von Kästner geschilderte Lust hat
der Ostler häufig beim Empfang eines so genannten Westpakets
empfunden. Ob ihn diese Erinnerung sehnsüchtig macht, entzieht
sich momentan noch der Bewertung. In Zeiten hemmungslosen Konsums
ist die Erinnerung sowieso ein eher seltener Gast.
Detlev Lücke ist leitender Redakteur der
Wochenzeitung "Das Parlament".
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