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Richard Herzinger
Konflikte halten die Gesellschaft zusammen
Auf der Suche nach dem "Eigenen"
Die Bedrohung durch den islamistischen
Terrorismus stellt den Westen nicht nur polizeitechnisch und
militärisch vor eine schwere Bewährungsprobe. Diese
Herausforderung zwingt die westlichen Demokratien auch, ihr eigenes
Selbstverständnis zu überprüfen. So wirft die Abwehr
der terroristischen Gefahr die Frage auf, wie weit
Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten gehen
dürfen, ohne dass das rechtsstaatliche Fundament offener
Gesellschaften irreparablen Schaden nimmt. Die Frage, was uns etwas
wert ist und welchen Preis wir dafür zu entrichten bereit
sind, bekommt hier eine handfeste politische Bedeutung.
Aber der Islamismus fordert die westlichen
Gesellschaften in einem noch umfassenderen Sinne heraus. Er
lässt sich nämlich nicht nur auf die kriminelle
Tätigkeit von Terroristen reduzieren. Er tritt auch in der
Form einer politisch-kulturellen Bewegung auf, deren - freilich
keineswegs homogene - Ideologie einen radikalen Gegenentwurf zur
säkularen Moderne anbietet. Längst beschränkt sich
sein Wirkungsbereich nicht mehr auf vermeintlich exotische
Weltgegenden und entlegene "failed states". Als eine politische
Kulturbewegung beeinflusst der Islamismus zunehmend auch die
wachsenden muslimischen Gemeinden in den westlichen Demokratien.
Seine Propagandisten versprechen die Überwindung der Trennung
von Individuum, Gesellschaft und Staat, von Einzel- und
Gesamtinteresse, von Intellekt und "Seele" in einer alle
Lebensbereiche umfassenden Gemeinschaft, die sich auf eine
verbindliche Ordnung absoluter, durch eine nicht hinterfragbare
Offenbarung verbürgter Werte stützt.
Auf diese Herausforderung zeigen sich die
westlichen Gesellschaften schlecht vorbereitet. Dass - nach dem
scheinbaren Ende des Zeitalters totalitärer Ideologien - ein
gesellschaftliches Gegenmodell mit solcher Wucht noch einmal auf
der weltpolitischen Bühne erscheinen würde - damit hatte
im Westen kaum noch jemand gerechnet. Dabei erweist sich die
Sehnsucht nach einer metaphysisch abgesicherten Einheit des
Daseins, die der Islamismus artikuliert, als keineswegs so fremd
und äußerlich, wie es auf den ersten Blick den Anschein
hat. Diese Sehnsucht nach ihrer eigenen Negation hat die
Säkularisierung vielmehr von Anfang an begleitet wie deren
eigener Schatten. Aus dieser Sehnsucht gingen nicht zuletzt die
totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts hervor.
Ihr Wiederauftauchen in Gestalt der
islamischen Erweckungsbewegung erinnert die westlichen
Gesellschaften daran, dass der Wunsch nach dem Aufgehen in einem
vermeintlich harmonischen Ganzen auch bei uns unterschwellig
lebendig geblieben ist. Davon zeugt nicht nur die endemische Suche
nach esoterischen Heilsphilosophien und Ersatzreligionen für
das im Zuge der Verweltlichung domestizierte offizielle
Christentum. Es zeigt sich auch an der Verlegenheit, mit der Teile
der westlichen Öffentlichkeit auf die Frage reagieren, was sie
an ihrer säkularen Ordnung eigentlich für wertvoll und
verteidigenswert halten.
Viele Anklagen islamistischer Prediger
reproduzieren zugespitzt eben jenes negative Selbstbild der
liberalen Moderne, das in den westlichen - jedenfalls in den
europäischen - Gesellschaften inzwischen zum Gemeingut einer
populären Kulturkritik geworden ist. Sie prangern die
angebliche Entleerung des Seins durch einen bindungslosen
Individualismus, die vermeintliche Abtötung des Geistes durch
die Fixierung auf Materialismus und hemmungslosen Konsum, den
behaupteten Zerfall der Gesellschaft durch die Auflösung
"natürlicher" und traditionell gewachsener
Gemeinschaftsstrukturen an. Damit drängen sie den Westen in
die Defensive - scheint er sich doch der Werte, die er seiner
säkularen Ordnung zu verdanken hat, alles andere als sicher zu
sein. Die Errungenschaften des Säkularismus sind inzwischen
wohl so selbstverständlich geworden, dass die Notwendigkeit,
ihre Voraussetzungen immer von Neuem zu sichern und sie aktiv zu
verteidigen, immer weniger erkannt wird. So ist das Bewusstsein
darüber verblasst, dass das Prinzip der individuellen
Autonomie nicht nur für das vielfach beklagte Gefühl von
Vereinzelung und Ungewissheit verantwortlich ist, sondern die
Ansprüche der Bürger auf Unversehrtheit, Rechtssicherheit
und soziale Absicherung überhaupt erst begründet
hat.
Deshalb verfällt die Diskussion
über den Wertebestand der freien Gesellschaften häufig in
ein melancholisches Nachsinnen über vermeintlich verlorene
Sicherheiten, die man an den verschütteten "Wurzeln" des
"christlichen Abendlandes" wieder zu finden hofft. Doch wer auf den
Anspruch fundamentalistischer Ideologen, höhere Werte als die
des "dekadenten" Westens zu vertreten, mit der Suche nach einem
gleichwertigen "Eigenen" der eigenen Kultur antwortet - und daraus
womöglich noch, wie im Streit um den EU-Beitritt der
Türkei, kulturelle Ausschlusskriterien ableitet - ist den
Herausforderern bereits in die Falle gegangen. Beruht der Vorzug
der offenen Gesellschaften doch gerade in ihrer Fähigkeit, auf
eine ein für allemal festgelegte kollektive "Identität"
verzichten und aus der daraus entstehenden Vielfalt
Produktivität gewinnen zu können.
In Deutschland hat sich auf die politischen
und intellektuellen Debatten der Mehltau eines geradezu lustvoll
zelebrierten Kulturpessimismus gelegt. Sein Ausgangspunkt ist die
verfestigte Überzeugung, unsere Gesellschaft leide unter einem
rasant voranschreitenden "Werteverfall". Und niemand könnte ja
auch leugnen, dass wir uns schwer wiegenden ökonomischen und
gesellschaftlichern Problemen gegenübersehen. Doch das in
zahllosen Talkshows und Podiumsdiskussionen geradezu rauschhaft
betriebene Schwarzmalen erzeugt in der Gesellschaft keine
Veränderungsaktivität, sondern paradoxerweise das
Gegenteil: eine Art selbstzufriedener Apathie. Flankiert und gegen
ihre eigene erklärte Intention gefüttert wird diese
Haltung durch die vielen öffentlichen Warner und Mahner, die
zur Besinnung auf ursprüngliche Werte und Tugenden aufrufen.
Denn der Ruf nach der Rückbesinnung auf "Werte" hat
längst den Unterton der Denunziation angenommen. Mit dem
Finger auf andere zu zeigen und ihnen Selbstsucht und
Verantwortungslosigkeit vorzuwerfen, ist in Deutschland zu einem
lager- und schichtenübergreifenden Volkssport geworden. So
bezichtigen sich Junge und Alte gegenseitig, den
Generationenvertrag zu kannibalisieren. Je nach
Lagerzugehörigkeit und je nach Themenvorgabe durch den
Sonntagabendtalk oder die "Bild"-Zeitung gelten "die Politiker",
"die Gewerkschaften" oder "die Manager" als Kollektivschuldige am
unaufhaltsamen Niedergang einer einst angeblich intakten Moral.
Niemandem scheinen die Ankläger noch einen Sinn für
Anstand zugestehen zu wollen - außer natürlich sich
selbst.
Die Klage über den allgemeinen
Werteverlust ist so längst zur idealen Ausrede geworden, warum
man zur Abhilfe gesellschaftlicher Missstände selbst nichts
beiträgt oder sich um praktikable Verbesserungsvorschläge
herumdrückt. So erzeugt die viel beschworene "Wertedebatte"
das Gegenteil dessen, was sie vorgeblich erreichen will: Statt zur
Stärkung selbstbewusster Persönlichkeiten beizutragen,
die sich ihren Mitmenschen gegenüber öffnen,
befördert sie Verbitterung und Abkapselung von einer unter den
Generalverdacht der Verkommenheit gestellten sozialen
Umwelt.
Der Zusammenhalt einer freiheitlichen
Gesellschaft wird aber nicht durch ewig feststehende Werte
garantiert, auf die man sich per innerer Einkehr im Bedarfsfall
wieder "besinnen" könnte. Tragfähige Werte entstehen
vielmehr überhaupt erst aus der lebendigen Interaktion freier
Individuen und gesellschaftlicher Interessengruppen. Sie wachsen
aus der Erfahrung, dass Konflikte - auch zum eigenen Vorteil -
besser durch vernünftigen Interessenausgleich gelöst
werden können als durch einen regellosen Kampf aller gegen
alle. Um ihre Werte lebendig zu halten, brauchen die Bürger
einer freien Gesellschaft Räume, in denen sie aktiv ihr
eigenes Schicksal gestalten können. Und sie brauchen, wie der
designierte Bundespräsident Horst Köhler zu Recht gesagt
hat, wieder mehr Zutrauen in die "Kraft der Freiheit" - jenes
wichtigsten aller Werte, den uns die säkulare Demokratie
bietet.
Richard Herzinger ist Autor der
"Zeit".
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