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Annette Rollmann
Editorial
Alles verändert sich, aber die Menschen brauchen etwas, an
das sie glauben, an dem sie festhalten können. Die Frage nach
dem, was uns wirklich etwas wert ist, eröffnet einen Blick auf
den gesellschaftlichen Wandel von Leitvorstellungen und materiellen
wie immateriellen Wünschen. Beides hängt eng zusammen.
Ständig müssen wir entscheiden, wofür wir unser Geld
ausgeben, Kraft, Aufmerksamkeit oder Zeit verwenden. In dem
Maß, wie sich Konsum verändert, verändern sich die
Werte.
Selbstverständlich gibt es in unserer Gesellschaft
Grundwerte, die für alle verbindlich sind. Doch inwieweit gibt
es in einer pluralen Gesellschaft Wertmaßstäbe, die eine
Gesellschaft darüber hinaus zusammen halten?
Der Einkauf im Supermarkt kann ein politischer Akt sein - und
das nicht nur, wenn der Verbraucher bewusst auf bestimmte Produkte
setzt. Denn auch Gleichgültigkeit hat politische Folgen.
Gleichzeitig verändern sich die Produkte ständig, die wir
brauchen, oder die wir meinen zu brauchen. Haben wir mehr Geld zur
Verfügung, werden einige Dinge scheinbar sinnstiftend, auf die
andere Menschen gut und gerne verzichten können und
müssen.
Aber Konsum reduziert sich nicht nur auf diesen
vordergründigen, unmittelbaren Sinn: In Zeiten der
wirtschaftlichen Stagnation und des demographischen Wandels
entsteht langfristig ein volkswirtschaftliches Dilemma: Einerseits
lebt die Wirtschaft vom Konsum. Auf der anderen Seite engt Konsum
ohne Regeln die Lebenschancen künftiger Generationen ein. Wenn
Konsumieren die Konjunktur fördert, welches Maß an
Konsumieren ist dann sowohl ökonomisch als auch individuell
wünschenswert? Und wenn der Wert des Wachstums in Zukunft
allenfalls als Nullsummenspiel stattfinden wird, durch welche
gesellschaftliche Leitvorstellung kann er ersetzt werden? Kann
Wachstum durch die Freuden des Verzichts ersetzt werden? Und wer
soll auf was verzichten?
Viele Menschen sind nicht mehr aufgehoben in einem Glauben, in
der Überzeugung, dass eine geistige Kraft über die
individuelle Existenz des Menschen wirkt. Die Gesellschaft ist
orientierungsloser, bisweilen hedonistischer geworden. Immer
stärker neigen wir dazu, religiöse Traditionen und Formen
bei Hochzeiten und Beerdigungen wie eine Dienstleistung zu
konsumieren. Die Kirchen beklagen einen Rückgang der
Mitglieder, gleichzeitig finden spirituelle Formen Zulauf, die
nicht aus unserem Kulturkreis stammen.
Werte und Maßstäbe, nach denen wir handeln und die wir
für wünschenswert halten, sind nicht absolut. Je nach den
Lebensumständen verändern sie sich. In der Phase des
Aktienbooms gehörte es zum guten Ton, dem "richtigen" Stil
mehr Wert beizumessen als den wärmenden Worten eines alten
Freundes. Die Frage nach der Familie, nach Bindung erfährt
zumindest bei jungen Menschen neuerdings eine Renaissance -
allerdings entgegen der Tatsache, dass die Zahl der Singlehaushalte
in der Bundesrepublik ständig steigt.
Ob der Wunsch nach Bindung Realität wird, ist nicht
ausgemacht. Bindung bedarf schließlich auch des Wahrnehmens
und des Annehmens des Anderen. Dennoch werden die Fragen danach,
wie Leben aussehen soll, nachdenklicher gestellt als noch vor
wenigen Jahren. Die größere Arbeitslosigkeit, der globale
Terror und die wachsende Vereinzelung der Menschen haben
hedonistische Leitbilder zurückgedrängt.
Wie aber den Mangel gerecht verteilen? Wie für
künftige Generationen vorsorgen? Es sind die alten Sinnfragen,
die neu gestellt werden. Gibt es einen neuen Ernst, gibt es den
Willen zu mehr Verantwortung? Wer sich mit diesen Fragen nicht
auseinander setzen will, kann auch keine Vorstellungen von Zukunft
entwickeln.
Annette Rollmann ist freie Journalistin in Berlin.
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