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Hans Vorländer
Große Worte und Debatten
Die Reden der Parlamentarier
Das waren noch Zeiten, als ein Abgeordneter in der Frankfurter
Paulskirchen-Versammlung von 1848 ausrief, da er sich durch
Zwischenrufe in seiner Rede gestört fühlte: "Meine
Herren, ich habe das Wort, und niemand hat das Recht, mich zu
unterbrechen." Heute wäre eine so apodiktische Mahnung an die
Teilnehmer einer parlamentarischen Debatte wohl kaum noch
möglich. Die Paulskirche steht am Anfang parlamentarischer
Kommunikationsformen, die den demokratischen und modernen
Parlamentarismus in Deutschland auszeichnen. Aber schon damals, das
macht der Einwurf des zitierten Redners deutlich, war die
Parlamentsdebatte bisweilen ein schriller Austausch von Meinungen
und Ansichten.
Der Geschichte parlamentarischer Kommunikation geht Armin
Burkhardt, ein ausgewiesener Vertreter der germanistischen
Linguistik mit besonderem Interesse für die Sprache der
Politik, in seiner gewichtigen Studie nach. Ihm geht es um nichts
weniger als um eine "Beschreibung der Grundzüge des
historischen Wandels parlamentarischer Verhandlungsstile". Der
Autor tut dies, indem er, in mehreren historischen und
theoretischen Anläufen, der parlamentarischen Sprache, der
Kommunikation in Parlamenten, aber auch den Wendepunkten der
Parlamentsgeschichte mit linguistischen Mitteln nachspürt.
Wendepunkte im Parlament
Eindrucksvoll ist, wie er mit sicherem Zugriff auf die
bedeutenden Debatten und einige markante Zitate die Wendepunkte der
deutschen Parlamentsgeschichte zu charakterisieren vermag. "Jetzt
wird nicht mehr geredet, jetzt wird gehandelt!" - das bedeutete den
Anfang vom Ende, nämlich die Umfunktionierung des Deutschen
Reichstags zum Scheinparlament im März 1933. Oder: "Ich
glaube, wir sollten es bei unserer ersten Sitzung, damit das Schiff
in Fahrt kommt, mit den Formalitäten nicht so genau nehmen." -
so konstituierte sich der Parlamentarische Rat 1948.
Als sich 1949 die Provisorische Volkskammer zusammen fand,
hieß es in einem Debattenbeitrag: "Gerade die Einheit der
Parteien hier im Osten ist das große Plus gegenüber den
Krakeelereien der Parteien im Westen Deutschlands." Und die
Selbstdemokratisierung der Volkskammer im November 1989 wird
eingefangen mit: "Es war bei der Besonderheit dieser Lage so, dass
40 Jahre Sozialismus unter unseren Füßen wegrutschten."
Und schließlich: "Die staatliche Einheit ist hergestellt" -
der 4. Oktober 1990 als die Geburtsstunde des gesamtdeutschen
Parlamentarismus.
Burkhardts Buch ist eine Fundgrube für die
einschlägigen Zitate. Nirgends, so scheint es, sind die
stenografischen Berichte der deutschen Parlamentsgeschichte so
umfassend ausgewertet und für eine Geschichte der
parlamentarischen Kommunikation verfügbar gemacht worden.
Damit sind aber weder das Anliegen noch der Inhalt der Studie
hinreichend erfasst. Es folgen Kapitel zur politischen Sprache, zur
Parlamentssemiotik, zur parlamentarischen Kommunikation, zur
parlamentarischen Sprache, ein höchst interessanter und
instruktiver Vergleich zweier, von Burkhardt als "ideal"
bezeichneter Debatten, nämlich die
Selbstverständnisdebatte der Paulskirche und die so genannte
Berlin-Debatte des Bundestages. Und als ob dies noch nicht genug
wäre, wird die Arbeit mit einer fast 100-seitigen Geschichte
der Parlamentsstenografie und des Protokollwesens beschlossen.
Ohne bündiges Konzept
Die Stärke der Studie ist zugleich auch ihre Schwäche.
In immer neuen Anläufen werden unterschiedliche analytische
Gesichtspunkte, basierend auf unterschiedlichen theoretischen
Annahmen, unternommen, um den verschiedenen Dimensionen
parlamentarischer Kommunikation, vor allem aber der Fülle des
Materials Herr zu werden. Die Teile bleiben additiv, werden nicht
in ein bündiges, integratives Konzept der Analyse und der
Darstellung eingebunden. Deshalb auch ist die Lektüre
über weite Strecken ermüdend. Das Buch vereinigt
Einzelstudien, anregend und illustrativ, es fehlt aber der
große verbindende analytische Rahmen. Es wird suggeriert, dass
die Geschichte parlamentarischer Kommunikation auf eine
Verfallsgeschichte parlamentarischer Debattenkultur
zuläuft.
Um von der parlamentarischen Kommunikation auf ein "Leiden am
politischen System selbst" zu schließen, bedarf es dann doch
einer etwas umfassenderen Analyse sowohl des Parlamentarismus,
seiner Funktionen und Aufgaben, wie auch des politischen Systems
selbst. Analyse der parlamentarischen Sprache ist ein wichtiger
Teilaspekt, erfasst aber nicht das gesamte
politisch-parlamentarische Geschehen.
Und was soll die Bemerkung, "dass die Legislative, statt die
Exekutive zu kontrollieren, tendenziell zu deren Handlanger
herabgekommen ist"? Hier scheint dann doch wohl ein profundes
Missverständnis über die Funktion des modernen
parlamentarischen Systems vorzuliegen. Es dürfte doch bekannt
sein, dass die Regierung im parlamentarischen, anders als im
präsidentiellen, nicht zu reden vom monarchischen, System von
der Mehrheit des Parlamentes gestützt und getragen wird, im
Parlament also Regierungsmehrheit und Opposition sich das
politische Widerspiel liefern.
Liegt die Schwäche der Arbeit im analytischen Gesamtrahmen,
so liegt ihre Stärke in der Einzelfallanalyse der
parlamentarischen Debattensprache. Hier hat Burkhardt einen
wichtigen Beitrag geliefert.
Armin Burkhardt
Das Parlament und seine Sprache.
Studien zu Theorie und Geschichte parlamentarischer
Kommunikation.
Reihe Germanistische Linguistik, Band 241.
Niemeyer Verlag, Tübingen 2003; 608 S., 154,- Euro
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