Hartmann Wunderer
An Wissen fehlt es zumindest nicht
Das neue Jahrbuch "Extremismus &
Demokratie"
Die verdienstvolle Reihe "Extremismus und Demokratie" von Backes
und Jesse hat sich mittlerweile zu einer kleinen Enzyklopädie
des Extremismus gemausert. Dabei sollte aber nicht unterschlagen
werden, dass der "Extremismus"-Begriff wissenschaftlich ebenso
umstritten ist wie der Begriff "Totalitarismus". Er bezieht sich
auf sehr disparate Phänomene, die historisch-politisch zwar
sicherlich strukturelle Analogien aufweisen, die aber doch aus sehr
unterschiedlichen sozialen und politischen Entstehungsbedingungen
erwachsen sind. Der moderne algerische Islamismus hat eben
völlig andere Entstehungsursachen als der italienische
Faschismus oder der deutsche Nationalsozialismus.
Ein einleitender Essay von Backes und Jesse deutet die
historischen Zäsuren in der deutschen Geschichte unter
extremismustheoretischer Perspektive. Neue Einsichten werden in
dieser tour d'horizon nicht entwickelt, eher historiographische
Allgemeinplätze: "Das Dritte Reich war durch und durch eine
deutsche Diktatur, nicht jedoch die auf den Bajonetten der
Sowjetunion fußende DDR." Welche Rolle die Einschätzung
der Sowjetunion bei Intellektuellen im Kalten Krieg spielte,
verdeutlicht Friedrich Pohlmann an einer bitteren Kontroverse
zwischen Camus und Sartre.
Anhand des "Zauberberg" von Thomas Mann analysiert Christian
Bergmann den "linken Totalitarismus", verkörpert in dem
Protagonisten Leo Naphta, der nach dem Vorbild des ungarischen
marxistischen Literaturhistorikers Georg Lukács modelliert
wurde. Eine weitere Aktualität dieses "Jahrhundertromans"
sieht Bergmann darin, dass Naphta nicht nur den "Terror" und den
"Gottesstaat" beschwört, sondern auch am Ende Selbstmord
verübt. Hier gerät eine aktuelle Variante des Extremismus
in den Blick.
Islamistisch, nicht islamisch!
Mit dieser befasst sich Tânia Puschnerat. Anhand von drei
renommierten islamistischen Theoretikern (Sayyid Qutb, Necmettin
Erbakan und Ali Bulaç) stellt sie Grundzüge des
islamistischen (wohlgemerkt nicht des "islamischen") Diskurses dar.
Sie begreift den Islamismus nach dem Marxismus-Leninismus und dem
Nationalsozialismus/Faschismus als die dritte, historisch modernste
Form des Totalitarismus und plädiert nachdrücklich
dafür, den Islamismus aus dem Arkanum des tabuierten
religiösen Bereichs heraus zu lösen. Man müsse ihn
vielmehr in den Kontext der totalitären Ideologien stellen,
denn der verbreitete westliche "Kulturrelativismus" verschleiere
den gefährlichen Kern der islamistischen Ideologie, der sich
hinter den Vorstellungen von "gerechter Ordnung", "Moral" und
"Tugend" verberge. Auch wenn man manchen Argumentationen und
Bewertungen von Puschnerat nicht folgen mag, anregend und
instruktiv sind sie allemal.
Die Rubrik Forum enthält Fragen und Antworten zu den
Herausforderungen und zur Zukunft der "streitbaren Demokratie". Zu
Wort kommen Meinungen aus den Bereichen Wisenschaft und
Sicherheitsbehörden sowie von Repräsentanten der
"extremistischen" Parteien (Republikaner und PDS), die dann von den
Herausgebern kommentiert werden.
Die nächste Rubrik Daten, Dokumente, Dossiers
präsentiert Informationen zu den Wahlen 2002, zu diversen
Aktivitäten extremistischer Kräfte, einen Bericht
über das gescheiterte NPD-Verbotsverfahren, ein
Länderporträt Polens sowie ein biographisches und ein
Zeitschriftenporträt, das sich dem Organ "Gegenstandpunkt" der
längst totgeglaubten "Marxistischen Gruppe" widmet. Die zweite
Hälfte des Bandes füllen munter geschriebene und
gelegentlich geradezu kämpferische Rezensionen wichtiger
Neuerscheinungen.
Ungeachtet der eingangsangedeuteten Bedenken gegenüber
einem historisch-politisch zu wenig differenzierten Extremismus-
und Totalitarismus-Begriff bietet das Jahrbuch durchaus eine Reihe
eindrucksvoller Einzelstudien und Materialien. Bedauerlich
erscheint, dass Kritiker dieses Konzepts sich hier nicht zu Wort
melden.
Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.)
Jahrbuch Extremismus & Demokratie.
15. Jahrgang 2003.
Nomos,, Baden-Baden 2003; 528 S.; 44,- Euro
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