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Helmut Herles
Reformierend und beharrend
Im Gespräch: Rainer Barzel wird
80
Sie haben gefälligst gesund zu werden", so herzlich-knapp
wünschte der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD)
seinem politischen Gegenspieler und Freund Genesung, nachdem Barzel
im vergangenen Jahr mit Krebs zu kämpfen hatte. Der SPD- und
der CDU-Politiker hatten von 1966 bis 1969 als Fraktionsvorsitzende
die Große Koalition geführt und waren dabei mindestens so
einflussreich und gestaltend wie Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger
(CDU) und der sozialdemokratische Vizekanzler, Außenminister
Willy Brandt (SPD). Diese zuverlässige und belastbare
Beziehung der beiden hielt es sogar aus, dass Rainer Barzel 1982
das konstruktive Miss-trauensvotum zur Abwahl des Bundeskanzlers
Helmut Schmidt und zur Wahl Helmut Kohls begründete. Es
gehört zu den Widersprüchen dieses schwierigen Lebens,
dass Kohl gelang, was ihm, Barzel, 1972 gegen Willy Brandt nicht
glückte.
Angesichts dieser Vorgeschichte ist es kein Wunder, dass im
Anschluss an den Dankgottesdienst zum 80. Geburtstag des einstigen
CDU-Vorsitzenden und früheren Bundestagspräsidenten am
20. Juni, in der Münchener Asam-Kirche auf dem Empfang in der
Bayerischen Akademie der schönen Künste nach
Grußworten der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel und des
bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Chefs Edmund Stoiber
Helmut Schmidt die Laudatio hielt. Bundestagspräsident
Wolfgang Thierse gibt ihm am 29. Juni ein Essen in Berlin. Dass
Helmut Kohl in dieser Reihe fehlt, ist kein Zufall. Barzel: "Es
gibt mir gegenüber keine Geste von ihm."
Rainer Candidus Barzel stammt aus dem katholischen Teil
Ostpreußens, aus Braunsberg im Ermland, wuchs in Berlin auf,
war im Zweiten Weltkrieg bei den Marinefliegern. "Seither weiß
ich, was Angst heißt." In Köln studierte er
Rechtswissenschaften und Volkswirtschaft. Die Dissertation des Dr.
jur. handelt, für ihn charakteristisch, von den "geistigen
Grundlagen der Parteien". Damals habe er sich vergeblich um den
Singsang des kölnischen Dialekts bemüht. Von 1949 bis
1956 war er bei Ministerpräsident Karl Arnold für die
NRW-Regierung tätig. Die Geschäftsordnung des
Vermittlungsausschusses war sein Werk. Von 1957 bis 1987
Bundestagsabgeordneter, Bundestagspräsident von 1983 bis 1984.
Ihm gelang die Heranführung der Grünen an den
Parlamentarismus. Er war zugleich reformierender und beharrender
Präsident. Von 1963 bis 1973 führte er die
Bundestagsfraktion der CDU/CSU, von 1971 bis 1973 war er auch
Parteivorsitzender der CDU. Unter Adenauer 1962/63 und Kohl 1982/83
war er als Bundesminister für das Gesamt- und das
Innerdeutsche zuständig, von 1986 bis 1990 Koordinator der
deutsch-französischen Zusammenarbeit. Er hatte sich zwar als
Kanzlerkandidat nicht gegen Brandt durchgesetzt, aber die Union als
schlagkräftige Oppositionsfraktion geführt. Im
dialektischen Widerspruch zu Brandt setzte er Korrekturen in der
Ostpolitik durch ("So nicht!") und verhinderte in einem
weltpolitisch entscheidenden Augenblick das Scheitern des Moskauer
Vertrages: "Wir wollten die Sowjetunion nicht demütigen. Wir
hätten sonst den Beginn der Auflösung des sowjetischen
Kommunismus gestört oder vielleicht sogar verhindert."
Rainer Barzel ist Autor von 20 Büchern. Zuletzt erschienen:
1998 "Die Tür blieb offen. Mein persönlicher Bericht
über Ostverträge - Misstrauensvotum - Kanzlersturz.",
2001 "Ein gewagtes Leben". Erst 2002 erschien im Verlag K. H. Bock,
Bad Honnef ein ironisch kritisches Tagebuch aus dem Wahlkampf 1976.
In ihm blitzt aphoristisch auf, wie lange uns schon dieselben
Probleme plagen. Barzel damals: "Die Regierung sagt: Wir haben
Arbeit, Kinder, Renten gesichert. Die Opposition: Wir werden
Arbeit, Kinder, Renten sichern."
Der Sinnenmensch Barzel hätte auch ein hervorragender Koch,
vor allem aber Filmautor werden können. Mit dem polnischen
Regisseur Stanislaw Krzeminski drehte er 1987 für das ZDF eine
Wiederbegegnung mit seiner ostpreußischen Heimat: "Zu Besuch,
aber nicht als Fremder" und 1989 "Jerusalem - eine Stadt, die uns
angeht".
Jerusalem, der Frieden im Heiligen Land und zwischen den drei
monotheistischen Religionen, beschäftigt ihn auch in seinem
noch nicht veröffentlichten jüngsten Werk gegen die
Angst. Die Ärzte hätten ihm geraten, nicht nur seinen
Körper zu trainieren: "Also mache ich, was ich noch immer kann
- ich schreibe." Er schreibt selbst mit der Hand. Walter Scheel
habe ihm deshalb ironisch gesagt: "Schreib' weiter so, deine
Freunde werden dich anrufen."
Ausgangspunkt des jüngsten Buches sind die vier Freiheiten:
"Die vierte ist die Freiheit von Angst." Im Gespräch in seiner
Münchener Wohnung skizziert er das Werk. Er setzt die
Erfahrung einer politischen und persönlichen Biographie, in
der er viel erlitten, dem Leiden aber standgehalten hat, weil er
ein religiöser Mensch ist, gegen den Zeitgeist der
Ängste. Seine junge Frau, die Schauspielerin Ute Cremer, die
er 1997 heiratete, half ihm, gegen seine Krankheit zu kämpfen
und trägt mit, was er durch den Tod seiner Frau Kriemhild,
seiner Tochter Claudia und den Verlust seiner 1995 bei einem
Autounfall gestorbenen zweiten Frau Helga Henselder-Barzel erlitten
hat.
Barzel ist seiner katholisch-sozialen Grundlinie treu geblieben
und warnt: "Manche glauben, die Äste zu beschneiden, damit der
Baum wieder blühe, legen aber in Wirklichkeit die Axt an die
Wurzeln." "Die Freiheit von Not ist ein produktiver Faktor." Obwohl
er milder und nachsichtiger geworden ist und ein Bart dem Gesicht
die frühere Glätte genommen hat, blitzt immer wieder
einmal die Lust am Polemisieren auf, so gegen das Wort des
politischen Betriebes, man müsse die Menschen "mitnehmen".
"Nein, Erwachsene und Starke lassen sich nicht mitnehmen, sie
wollen teilhaben." Barzels jüngste Schrift ist auch eine
Rückbesinnung auf Adenauer. Vor allem durch den
religionspolitischen Teil seines Werkes will er ermutigen. "Sich an
die Stelle des anderen fühlen" ist für ihn der
Grundbegriff, um eines Tages auch in Israel und Palästina
Frieden zu stiften. "Man darf nicht nur auf den Irak blicken."
Nach wie vor nimmt Barzel lebhaft Anteil am Parlamentarismus:
"Wo sind die großen Debatten, bei denen die Nation
zuhört? Früher haben die Leute dafür die Autofahrt
unterbrochen." "Heute verteilt Sabine Christiansen das
öffentliche Wort und nimmt durch ihre Fixigkeit dem Parlament,
was eigentlich dessen Sache ist." Sein Rat an die heutigen
Abgeordneten, vor allem die jüngeren: "Niemand hindert euch,
eure Rolle als Wortführer der deutschen Dinge voll
auszuschöpfen als ihr selbst."
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