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Thilo Castner
Deutsche Familiengeschichten
Geehrt, verfolgt, vertrieben: Die Wertheims und
die Dohnanyis
Geschichten großer Familien sind mehr als
private Geschichten. Wie in der Entwicklung großer Unternehmen
finden sich auch in den Chroniken großer Familien fast immer
die Geschichte eines Landes wieder. So auch in den
Familienbiografien der Dohnanyis und Wertheims, die zwei
Jahrhunderte deutscher Geschichte, aber auch der
deutsch-jüdischen Beziehungen seit dem 18. Jahrhundert
widerspiegeln.
Die Ahnenreihe der Wertheims beginnt für
Erika Fischer und Simone Ladwig-Winters im 18. Jahrhundert mit
Lewin Cohn, der mit seinem schweren Traggestell an sechs Tagen jede
Woche bis zu 20 Kilometer unterwegs ist, um Stoffe, Knöpfe und
Seidenbänder zu verhökern. Juden sind zu dieser Zeit fast
überall in Deutschland nur geduldet; immer wieder sind sie
Verfolgungen und Schikanen ausgesetzt. Seine Söhne Joel und
Joseph schlagen sich ebenfalls noch mit einem Bauchladen in
Wertheim am Main herum und nennen sich nach der Stadt, weil sie
hier ein einigermaßen Auskommen haben.
Anfang des 19. Jahrhunderts ziehen die
Wertheims nach Anklam. 1819, im Geburtsjahr von Abraham, Josephs
viertem Kind, kommt es in Vorpommern infolge einer Wirtschaftskrise
zu schweren antijüdischen Ausschreitungen und Misshandlungen.
Immerhin geht es der Familie allmählich besser, so dass
Abraham und sein Bruder Theodor in jungen Jahren nach England
geschickt werden können. Sie lernen das nach kapitalistischen
Methoden agierende Leben der damaligen Welthandelsmetropole kennen
und schätzen. Nach ihrer Rückkehr lassen sie sich in
Stralsund nieder und eröffnen ein Manufacture- und
Modewaren-Geschäft, das der Familie eine gewisse
wirtschaftliche Unabhängigkeit bringt, zumal das 1847
erlassene "Judengesetz" die legale Gleichberechtigung von
jüdischen und christlichen Einwohnern verankert.
Abraham heiratet im fortgeschrittenen Alter
die 25-jährige Ida. Aus der Ehe gehen neun Kinder hervor, die
alle deutsche Namen erhalten und sich später taufen lassen.
Mit Georg Wertheim, dem zweiten Sohn, beginnt der sagenhafte
Aufstieg. Den größten Teil des Buches widmen die
Autorinnen diesem Phänomen.
Georg, unterstützt von den Brüdern
Wilhelm und Franz, eröffnet nach einer erfolgreichen Lehre bei
einem Berliner Onkel zunächst eine Filiale in Rostock, 1885
dann in Berlin. Stets bemüht, sich in allem "preußisch"
zu verhalten, also stets arbeitsam, ehrlich, ordnungsliebend,
pünktlich und sparsam zu sein, gehen die Geschäfte gut,
weil die Preise bei Wertheim trotz ansprechender Qualität
niedrig sind. Neue Filialen kommen dazu, so am Leipziger und am
Potsdamer Platz. Das Detailgeschäft wird zum Warenhaus,
schließlich ist "Alles unter einem Dach". Wertheim wird zum
führenden, viel bewunderten Kaufhaus in Berlin. Die Erfolge
bringen Neider auf den Plan, die antisemitische Hetzpresse wird
erst kleinlauter, als Kaiser Wilhelm 1910 dem Warenhaus in der
Leipziger Straße einen Besuch abstattet und Georg Wertheim,
der sich ganz als Deutscher fühlt und großzügigst
spendet, zu kaiserlichen Empfängen eingeladen wird.
Der Erste Weltkrieg bringt erhebliche
geschäftliche Einbußen. In der Weimarer Republik geht es
wieder bergauf. Wie andere jüdische Warenhäuser auch,
wird Wertheim 1933 arisiert. 1937 ist die Gründerfamilie
"völlig draußen", die Firma wird in "Allgemeine
Warenhausgesellschaft AG"(AWAG) umbenannt. Von den 38
Familienmitgliedern der Wertheims gelten 25 nach den NS-Kriterien
als Juden. 20 von ihnen gelingt die Flucht nach England, Amerika
und Holland. Georg stirbt verbittert 1939. Den Ausgewanderten
bleibt nur die Erinnerung an bessere Zeiten
Nach 1945 kommt es zu keiner
Wiedergutmachung. Was von den Wertheimer Grundstücken und
Häusern im Westen liegt, wird von den Firmenchefs aus der
Nazizeit weitergeführt und später vom Hertie
übernommen, dann zusammen mit Hertie von Karstadt. Da dies
offensichtlich unter juristisch dubiosen Umständen
stattgefunden hat, laufen gegenwärtig von Wertheim-Nachkommen
Klagen an deutschen und amerikanischen Gerichten auf Rückgabe
beziehungsweise Entschädigung. In der SBZ und später in
der DDR - hier lag der größte Teil des Wertheim-Besitzes
- wurden die betreffenden Objekte in "Volkseigentum"
überführt. Die ursprünglichen Eigentümer wurden
mit den "Ariseuren" auf eine Stufe gestellt, Opfer und Täter
also gleich behandelt.
So wie es Fischer und Ladwig-Winters
überzeugend gelungen ist, im Schicksal der Wertheims zwei
Jahrhunderte deutsch-jüdischer Beziehungen lebendig werden zu
lassen, so hat auch Jochen Thies in seiner Familenbiografie der
Dohnanyis ein Stück deutscher Vergangenheit und Gegenwart
eingefangen. Sehr detailliert werden vier bedeutende Dohnanyis
vorgestellt: Großvater Ernst, der große ungarische
Pianist, Komponist und Dirigent, sein Sohn Hans, der
Widerstandskämpfer im Dritten Reich, und dessen Söhne
Klaus und Christoph, der eine erfolgreicher Politiker und
Unternehmer, der andere wie der Großvater begnadeter
Dirigent.
Ernst von Dohnanyi, der mit Deutsch und
Ungarisch zweisprachig aufwächst, spielt bereits im
Grundschulalter die Werke großer Meister, gibt als
13-Jähriger sein erstes Klavierkonzert im Pressburger
Rathaussaal, schafft zehn Jahre später mit umjubelten
Konzerten im Ausland den Durchbruch zum Weltstar und gilt neben
Bela Bartok als bedeutendster ungarischer Komponist des 20.
Jahrhunderts. 1905 zieht er mit seiner Familie nach Berlin, geht
später ohne Familie nach Budapest und emigriert nach 1945 in
die USA. Zu Unrecht der Kollaboration mit den Nazis
verdächtigt, kämpft er jahrelang verzweifelt um seine
Rehabilitation
Sohn Hans von Dohnanyi, mit Christine
Bonhoeffer verheiratet, einer Schwester von Dietrich Bonhoeffer,
macht als Jurist Karriere in Hamburg und wird 1933 im
Reichsjustizministerium in Berlin enger Mitarbeiter von
Justizministers Gürtner. Dort überwiegend mit
Strafrechtsfragen befasst, findet Dohnanyi, angewidert von den
Exzessen der Nazidiktatur, zum Widerstand. Zusammen mit Oster und
Canaris entwirft er Pläne zum Sturz des Regimes. 1943
verhaftet ihn die Gestapo. 14 Tage vor Kriegsende werden er und
sein Schwager Dietrich erhängt. Während die deutschen
Richter, die im Dritten Reich 50.000 Todesurteile gefällt
haben, nach 1945 ungeschoren davonkommen und überwiegend ihre
alte Tätigkeit aufnehmen können, wird das Todesurteil
gegen Hans von Dohnanyi erst 1997 aufgehoben.
So sind die Nachkriegsjahre für die
Söhne Hans und Christoph alles andere als ein Zuckerlecken.
Als ihr Vater verhaftet wurde, war Hans 15. Die Sorgen der Mutter,
wie es ohne Vater weitergehen sollte, das Ausbleiben jeder
Unterstützung und der jahrelange Kampf um die Rehabilitation
des Vaters haben ihn entscheidend geprägt. Sein Wechsel in die
Politik ist bestimmt durch ein starkes gesellschaftspolitisches
Verantwortungsgefühl. Er wird 1969 Staatssekretär,
übernimmt drei Jahre später unter Willy Brandt das
Bundesministerium für Bildung und Wissenchaft und wird 1976 in
der Regierung Schmidt Staatsminister im Auswärtigen Amt. Von
1981 bis 1988 ist er Erster Bürgermeister in Hamburg und
widmet sich danach intensiv dem Aufbau Ost.
Bruder Christoph tritt in die Fußstapfen
des Großvaters. 1957 wird er als jüngster
Generalmusikdirektor der Bundesrepublik nach Lübeck berufen,
wechselt sechs Jahre später nach Kassel, dann nach Frankfurt
und 1977 schließlich, als Nachfolger von August Everding, nach
Hamburg.. Seine größten Erfolge feiert er in Cleveland.
Hier bleibt er, angesehen und hochgeehrt, 20 Jahre. Mit Beginn der
Saison 2004/2005 kehrte er zum NDR nach Hamburg
zurück.
Die vierte Generation der Dohnanyis hat zehn
Mitglieder, die im In- und Ausland als Künstler, Unternehmer
oder Journalist tätig sind. Gut möglich, so Jochen Thies
im Schlusskapitel, dass ihnen ein Schicksal wie das der
Buddenbrooks bevorsteht: Die Enkel und Urenkel sehnen sich
unbewusst nach Ruhe und Frieden, um den permanenten
Überanstrengungen der drei Generationen vor ihnen zu
entgehen.
Erica Fischer / Simone
Ladwig-Winters
Die Wertheims. Geschichte einer
Familie.
Rowohlt Verlag, Berlin 2004; 384 S., 19,90
Euro
Jochen Thies
Die Dohnanyis. Eine
Familienbiografie.
Propyläen Verlag, Berlin 2004, 416 S.,
24,- Euro
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