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Thomas Vesern
Unter Habsburg vereint und jetzt durch die EU
getrennt
Beobachtungen im ungarisch-rumänischen
Grenzbereich
Wenn in der Haushaltskasse wieder einmal Ebbe herrscht, begeben
sich die Frauen von Biharkeresztes in den "Keleti Diszkont". Warum
der Besitzer seinen unscheinbaren Eckladen im Gemeindezentrum
Ost-Discount getauft hat, wird bei näherer Begutachtung des
Warenangebots deutlich: Mehr als Billigtextilien aus Hongkong kann
man dort nicht erwarten.
Im Gegensatz zum weit entwickelten Westen Ungarns und zur
dynamischen Hauptstadt Budapest müssen die Bewohner des
strukturschwachen Ostteils entlang der rumänischen Grenze
jeden Forint mehrfach umdrehen, bevor sie ihn ausgeben. Dass die
Bewohner der 4.300 Einwohner zählenden Gemeinde nicht selten
verdrossen wirken und der Zukunft pessimistisch entgegenblicken,
hat seine Gründe. Die wenigen Betriebe, die Arbeitsplätze
anboten, haben nach der politischen Wende dicht gemacht.
Als ein Budapester Landwirtschaftsmaschinenhersteller den
Zweigbetrieb in Biharkeresztes einstellte, verloren 600 Mitarbeiter
ihren Job. Die ausgeräumte Fertigungshalle, die
allmählich verfällt, steht für den ökonomischen
Niedergang einer östlichen Grenzregion, in der sich der Wunsch
nach Privatinvestoren bisher als Illusion erwiesen hat.
Bihar, wie die flache Gegend im Tiefland genannt wird,
zählte nie zu den ungarischen Regionen, in denen Milch und
Honig floss; früher lebten dort Haiduken, die sich als
Kleinbauern und Viehhirten mit den Osmanen und Habsburgern
schlugen. Sie erbauten in der kargen Weidelandschaft Ortschaften,
deren Kirchen mit ihren vier Ecktürmen aus Holz einen
Vorgeschmack auf das benachbarte Siebenbürgen vermitteln.
Dass man dort seine Gebrechen in Thermalbädern kurieren
kann, hat der kargen Landschaft touristisch wenig genützt. Wer
den Osten besucht, geht in das hervorragend restaurierte Debrecen,
einst Mittelpunkt des ungarischen Kalvinismus und in die
benachbarte Hortobágy-Puszta, Europas größte
Naturheidelandschaft.
Hätten die meisten Bewohner von Biharkeresztes nicht etwas
Ackerfläche und Vieh, wäre das Lebensniveau noch
niedriger. Es zu heben, ist Aufgabe von Mihaly Fülöp,
"Polgarmester" und damit Rathauschef.
Bis zur Wende 1989 Geschichts- und Geographielehrer an der
Gemeindeschule, erinnert sich der 60-jährige
Bürgermeister wehmütig an die anfängliche
Aufbruchsstimmung. Sie ist einer gründlichen Ernüchterung
gewichen: "Wir liegen in der am wenigsten entwickelten Region
Ungarns, es gibt keine Arbeitsplätze, zu wenig Fachkräfte
und die Infrastruktur ist viel zu schwach", lautet sein Urteil.
Wohl hätten westliche Investoren Interesse an Bihar gezeigt,
"nach ihrem Besuch haben wir jedoch nie mehr etwas von ihnen
gehört". Warenverteilungsunternehmen etablierten sich in
Rumänien, weil dort die Lohnkosten tiefer liegen.
Ob sich die wirtschaftliche Lage seit dem Beitritt Ungarns zur
EU im Mai 2004 bessert? "Das hoffen wir, wir haben ja nichts mehr
zu verlieren. Aber zum Amt eines Bürgermeisters gehört ja
schließlich eine gesunde Portion Optimismus", meint der
Polgarmester mit entwaffnendem Lächeln. Gewiss kann auch seine
strukturschwache Region mit Fördermitteln aus dem
Strukturhilfetopf rechnen; nach den Vorgaben der EU hat Ungarn die
31 Kapitel des Brüsseler "Acquis communautaire" Punkt für
Punkt eingearbeitet und damit sein rechtliches und politisches
System der EU angeglichen. Erst dann können die
Transformationsstaaten Ost- und Mitteleuropas EU-Fördermittel
beantragen.
Hinter den Fassaden seines Rathauses aus der sozialistischen
Ära hat man die Zeit bereits genützt. Alle Büros
sind mit modernen Computeranlagen ausgestattet, während die
Flut neuer Rechtsvorschriften nicht abreißt, müssen sich
die Mitarbeiter mit den Regeln vertraut machen und ratsuchenden
Bürgern gleichzeitig die neue Vorgehensweise
erklären.
Stolz verweist der Bürgermeister auf Gemälde in den
Sitzungszimmern. Sie zeigen Landschaften, Menschen und Tiere, wie
man sie im Biharland überall antrifft. Nicht wenige Kunstwerke
erwarb Fülöp von Malern, die jenseits der Grenze auf
rumänischem Staatsgebiet leben. Und darin liegt eine
Besonderheit von Bihar, einstmals größtes Komitat
Alt-Ungarns und seit 1920 zweigeteilt. Die Staatsgrenze zerschnitt
familiäre Bande, zerstörte jahrhundertelang gewachsene
Wirtschaftsbeziehungen und verurteilte den ungarischen
Bevölkerungsteil zu einer Randexistenz. Seither liegt der
städtische Mittelpunkt Nagyvárad, das heute Oradea
heißt, zwar keine zehn Kilometer von Fülöps Gemeinde
entfernt; wer Großwardein - so hieß Oradea während
der k.-u.k-Zeit bei den Deutschsprachigen - von Ungarn aus
erreichen will, sollte es jedoch nicht eilig haben, da ihm am
Grenzübergang Geduld abverlangt wird.
Hinter dem Ortsausgang führt eine neue Schnellstrasse zur
modernen Zollanlage Ártánd. Kleine Restaurants,
Geschäfte und Wechselstuben zeigen, dass sich am Grenzverkehr
Geld verdienen lässt. An diesem Grenzübergang werden
täglich bis zu 12.000 Fahrzeuge in Richtung Rumänien
abgefertigt. Nach der ungarischen Ausreisekontrolle reihen sich die
Fahrer in die Warteschlange vor dem rumänischen Zoll ein. Da
die Ausweise systematisch überprüft werden, müssen
die Reisenden in der brütenden Sommerhitze des Tieflandes
bisweilen lange ausharren. Sie legen eine beachtliche Gelassenheit
an den Tag: "Zu Ceaucescus Zeiten haben sie uns manchmal zwischen
zehn und 20 Stunden braten lassen", erinnert sich ein älterer
Ungar. Nach Ungarns EU-Beitritt hat sich die Lage bei
Ártánd erneut verändert. Als Mitglied besitzt Ungarn
gemäß Schengen-Vertrag eine EU-Außengrenze, die
stärker als bisher überwacht werden muss. Mit
Rücksicht auf die 1,5 Millionen Ungarischstämmigen hat
man beschlossen, Rumänen die Visumspflicht zu ersparen.
Verkehrsstaus, allerdings aus der anderen Richtung, sind nicht
zu vermeiden. Brüssel habe von Budapest eine Erhöhung des
Grenzpersonals um 20 Prozent gefordert, um die grüne Grenze
besser zu überwachen. "Die EU hat uns mit Informations- und
Kommunikationstechnologie sowie Nachtsichtgeräten
ausgestattet, wir haben jetzt EU-Niveau", verkündet
Unterleutnant Lászlo Balogh.
Bürgermeister Fülöp gibt sich derweil ganz
anderen Zukunftsvisionen hin: "Rumänien muss so schnell wie
möglich Mitglied der EU werden, dann gehört diese
Trennlinie endgültig der Vergangenheit an, sie ist dann nur
noch virtuell." Bis zum Beitritt, den Bukarest optimistisch
für 2007 anpeilt, wird man sich in Geduld üben
müssen; wie ausgeprägt das Wohlstandsgefälle
zwischen beiden Ländern ist, merkt man gleich nach dem
Grenzübertritt; auf der linken Straßenseite verrotten
Fernwärmeleitungen. Außer grünen Versicherungskarten
für Rumänen, die nach Ungarn fahren, wird rein nichts
angeboten.
Bei rund 240.000 Einwohnern besitzt Oradea ein beachtliches
Architekturerbe, aber nur wenige Baudenkmäler wurden bisher
renoviert. Wer von dort nach Ungarn fährt, kauft vor allem
elektronisches Gerät, denn es ist billiger. Ungarische
Staatsbürger hingegen tanken das günstigere Benzin und
halten Ausschau nach Kleidung. Thomas Vesern
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