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Martin Gerner
"Wir steuern auf einen blutigen September zu,
dann gibt es einen tödlichen Oktober"
Kandahar - Fluch und Hoffnung der einstigen
Talibanhochburg
Der Stoff der Burkqas weht seicht im Rhythmus
der heißen Mittagsbrise. Mal sind die Gewänder
türkis, beige, goldfarben und violett, einige auch rosa,
wenngleich die Staubschicht, die sich auf die Burkqa gelegt hat,
das Rosa zu einem matten Grau werden lässt. "In Kandahar wirst
du kaum eine Frau auf der Straße treffen", hatte man mir in
Kabul gesagt. Aber meine Augen erzählen mir eine andere
Geschichte.
Die Frauen in ihren Ganzkörperschleiern
sind bunte Farbtupfer im Stadtbild. Nur übertroffen von den
überall präsenten Obstauslagen entlang der
Hauptstraße und den zahlreichen Basare. Pyramiden von
Granatäpfeln, Pfirsichen, Feigen, Trauben und einige der
süßesten Melonen, die man sich vorstellen kann. Je tiefer
man in das Gewirr der engen Gassen vorstößt, desto mehr
scheint man einem vergangenen Zeitalter entgegenzustreben.
Biblische Bärtige mit Turban kommen einem entgegen,
Pferdekarren, Menschen, die Pferden gleich mit verzerrtem Gesicht
schwerbeladene Gespanne hinter sich herziehen.
Die schwarzen Turbane, Zeichen der
Talibanherrschaft, sind im Stadtbild verschwunden. Der Fluch, die
ehemalige Hochburg der Bewegung zu sein, ist Kandahar geblieben.
1994 nahmen die bewaffneten Koranschüler und ihr Führer
Mullah Omar, von Pakistan aus kommend, die Stadt, ohne dass ein
einziger Schuss fiel. Heute residiert die US-Army in der umwaldeten
Wohnanlage des flüchtigen Taliban-Chefs vor den Toren der
Stadt.
Viele Lehmbauten in Kandahar gleichen Ruinen,
das sechsstöckige Gebäude des staatlichen Rundfunks ist
durchlöchert von Einschüssen und Raketen-Kratern. "Die
meisten Zerstörungen rühren aus der Zeit der sowjetischen
Besatzung her", sagt Sarah Chayes, eine Amerikanerin. "Die
US-Truppen sind hier im Dezember 2001 mit chirurgischer
Präzision vorgegangen. Wenn es Häuser von
mutmaßlichen Taliban oder Al Qaida-Mitlgiedern gab, wurden
diese zielgenau gesprengt." Klingt wie aus dem Mund eines Public
Relations Officers der US-Armee. Aber Sarah Chayes ist so ziemlich
das Gegenteil. Die 42-Jährige ist eine der wenigen
Ausländerinnen, die in Kandahar nicht unter dem Dach eines
UN-Guesthouses lebt. Vor drei Jahren kam sie als Journalistin in
die Stadt. Heute leitet sie dort eine Genossenschaft für
Milch- und Molkerei-Produkte, spricht fließend Paschtu, die
Landessprache des Südens und fährt ohne Schleier mit
langem Haar in ihrem Landrover durch die Straßen der
Stadt.
Das geht freilich nur, weil sie höchsten
Schutz genießt. Die schützende Hand über Sarah
Chayes heißt Kayoum Karsai. Er ist einer von zwei Brüdern
des Staatspräsidenten Hamid Karsai, die in Kandahar
residieren. Der zweite Bruder, Walli Karsai, ist eine Eminenz. Am
Tor seiner weiß-marmorierten Villa stehen junge und alte
Männer Schlange. "Wenn es beim Gouverneur nicht weitergeht,
kommen wir hierher", erklärt ein Mann mit Turban seine
Beweggründe. Walli Karsai sitzt im ersten Stock. Ein
ständiges Kommen und Gehen herrscht in seinen mit weichen
Teppichen ausgelegten Empfangs-Suiten. Der Mann wirkt auf den
ersten Blick wenig dynamisch, unscheinbar, alles andere als eine
Kopie seines bekannten Bruders.
"Ich leite die große Shura von Kandahar.
Und ich versuche hier Stammes-Fehden zu schlichten", gibt der rund
40-Jährige Auskunft. Der jüngere Karsai-Bruder nennt noch
ein anderes Ziel: die Menschen in Kandahar den
Koalitions-Kräften näher zu bringen. Ob das gelungen ist,
bleibt fraglich. Der über 1.000 Mann starke
US-Luftwaffen-Stützpunkt vor den Toren von Kandahar, einst von
den Amerikanern als Auftankstation für Passagierflüge
zwischen Europa und Indien gebaut, schickt nur gepanzerte
Fahrzeugkonvois in die Stadt. Im Ausguck Soldaten mit
Maschinengewehr im Anschlag, die ihre Angst angestrengt unter
Kontrolle halten. "Die Amerikaner hier machen einen großen
Fehler: alle Afghanen, die sie auf dem Stützpunkt anstellen,
sind von einem Stamm, dem der Barakzai. Das ist der Stamm, dem auch
der Gouverneur angehört", erklärt Sarah Chayes. Die
anderen großen Stämme, Atzeksai und Popolzai, dem auch
Präsident Karsai angehört, haben das Nachsehen. "Die
Stammes-Logik ist ein wahres Fangnetz in dieser Gegend", so Sarah
Chayes, "jeder, der sich nicht damit auseinandersetzt, wird
früher oder später von einem der Stämme
instrumentalisiert, von den anderen womöglich
bekämpft."
Neben dem Fluch gibt es das Klischee der
ehemaligen Taliban-Hochburg. Kandahar ist längst nicht mehr
die Gegend, in der sich die meisten Aufständischen sammeln. Es
sind die Nachbarprovinzen, die Kandahar wie ein Gürtel
umgeben, in denen sich Taliban, Al Qaida und neuerdings eine
Gruppierung Namens Jamiat Jaishal Muslemeen (JJM) tummeln. Auch der
vielgesuchte Gulbuddin Hekmatyar soll dieser neuen Formation
angehören. Genaues wissen, so sagen sie, weder
Sicherheitsbehörden noch ISAF. Hemland, Khost, Paktia, Uruzgan
und Zabul.
In diesen südlichen Provinzen sind die
Afghanen fast unter sich. Es gibt keine UN-Mitarbeiter, die NGOs
haben sich weitgehend zurückgezogen, keine ISAF- oder
US-Truppen, die für Sicherheit sorgen, abgesehen von den
jeweiligen Provinz-Hauptstädten. Freies Feld fuer die Taliban,
die hier in einigen Orten die Stadtverwaltung stellen. 100
Kilometer östlich von Kandahar, jenseits der pakistanischen
Grenze, leben noch viele aus dem verlorenen Krieg. "In Quetta wohnt
eine Reihe ranghoher ehemaliger Taliban ungestört in
gutsituierten Häusern", sagt Talat Bik von der UN in
Kandahar.
Die Infliltration über das meist bergige
Grenzland findet unbemerkt statt, jedenfalls wird sie nicht aktiv
verhindert. Manche Attentäter kommen mit dem Mottorrad
über die Grenze, um ihre Anschläge auszuführen. "Hit
and run", nennt Nick Downie von der Sicherheitsorganisation ANSO
das. "Wir beobachten auch Gruppen von vier bis 20 Männern, die
sich in diesen Provinzen bewegen und dann wieder untertauchen.
Welche Strategie sie mit Blick auf die Wahlen verfolgen,
können wir nur ahnen", so Downie.
Eines scheint klar. Die Aufständischen,
deren harter Kern einige 100 Männer vermutlich nicht
überschreitet, wollen die erste demokratische
Präsidentenwahl in Afghanistan am 9. Oktober mit allen Mitteln
verhindern. "Wir steuern auf einen blutigen September zu, und dann
gibt es einen tödlichen Oktober", heißt es in einer
Erklärung der JJM.
Der jüngste Anschlag in Kabul, im Herz
der westlichen Hilfsorganisationen und ihrer
Verlustierungsplätze, könnte ein Vorgeschmack darauf
sein. In Kandahar ist unlängst das Gebäude des
UNHCR-Flüchtlingshilfswerks angegriffen worden. "Es gibt
keinen von uns, der nicht im Laufe der letzten Monate mit der Waffe
bedroht worden ist", sagt Peter Murphy. Der schlaksige
Neuseeländer organisiert in Kandahar die
Präsidentschaftswahlen. Er leitet das Regional-Büro des
JEMB. JEMB steht für "Joint Electoral Management Body". Eine
handvoll ausländischer Wahlexperten, die bereits Erfahrung mit
der Einführung demokratischer Wahlsysteme auf dem Balkan oder
auf Timor haben, leiten hier das Gros der afghanischen Mitarbeiter
an. Die fahren dann in den weißen und provokativ funkelnden
Landrovern mit blauer UN-Aufschrift raus ins Umland, um für
eine möglichst große Wahlbeteiligung zu werben. "Anfangs
dachten die Menschen, sie würden von uns Nahrungsmittel oder
Gutscheine bekommen", erzählt Peter Murphy über den
Auftakt der Registrierung vor wenigen Monaten. "Mittlerweile wissen
sie, dass sie bei uns ihre Wahlkarte abholen können, mit der
sie den neuen Präsidenten wählen".
Mehr als zehn Millionen registrierte
Wähler landesweit haben JEMB und UNAMA, wie die Hilfsmission
der UN für Afghanistan offiziell heißt, unlängst
stolz vermeldet. Aber die Statistik hat ihre Macken. "Ich besitze
zwei Wahlkarten", sagt ein junger Mann in Kandahar, der nicht
namentlich genannt werden möchte. "Ich kenne welche, die haben
sechs oder sieben Wahlkarten. Es war ganz einfach daranzukommen.
Keiner hat überprüft, ob ich schon eine hatte." Peter
Murphy vom JEMB sagt dazu scheinbar ohnmächtig: "Es gibt diese
Fälle. Aber mir ist lieber, dass möglichst viele Afghanen
zur Wahl gehen, als dass einer nicht registriert ist".
Am Wahltag wird jeder Wähler, gleich ob
Analphabet oder des Schreibens kundig, seinen rechten Daumen in ein
blaues Stempelkissen drücken müssen. So soll verhindert
werden, dass Bürger mehrfach wählen. Der blaue
Daumenabdruck birgt aber auch eine Gefahr: er ist für die
militanten Gegner der Wahl leicht auszumachen. Bislang haben die
Taliban rund 20 Menschen umgebracht, allein weil ihre Opfer im
Besitz des Wahl-Ausweises waren. Die Registrierung zur Wahl gilt
den Taliban als Verrat, als Akt der Kollaboration mit den
Ungläubigen. Auch zwölf afghanische Mitarbeiter des JEMB
mussten deshalb bisher ihr Leben lassen. "Die Wahlen werden nicht
frei sein, sie werden nicht fair sein. Im besten Fall werden sie
akzeptabel sein", sagt Adam Kaplan, ein Amerikaner und Experte
für die internationale Migrationsorganisation IOM. Auf der
Straße von Kabul nach Kandahar wurde unlängst ein
öffentlicher Reisebus von der afghanischen Polizei gestoppt.
Die Insassen wurden aufgefordert auszusteigen und sich registrieren
zu lassen. Einige hatten bereits ihren Wahlausweis, wurden aber
gedrängt sich ein zweites Mal erfassen zu lassen.
Demokratischen Zwang nennt man das wohl.
In Kandahar ist die Wahlkarte mittlerweile so
etwas wie ein Sesam-Öffne dich. "Städtische
Krankenhaeuser, aber auch Privatkliniken operieren nur, wenn die
Patienten die Wahlkarte vorzeigen", weiß Sarah Chayes. "Auch
bei der Auto-Reparatur kann es passieren, dass sie den Ausweis
vorzeigen müssen." Zudem wird immer wieder von spontanen
Sicherheitskontrollen im ganzen Land berichtet. Wer nachweisen
kann, dass er registriert ist, kommt durch. Wer keine Karte hat,
muss ein Strafgeld von 500 Afghani, umgerechnet zehn Dollar zahlen,
was eine enorme Summe darstellt. "Wir sind einem doppelten Zwang
ausgesetzt", beklagt sich ein Arzt in Kandahar, "einerseits sollen
wir um jeden Preis an der Wahl teilnehmen. Wenn man registriert
ist, hat man Angst, auf dem Weg nach Hause von Taliban
überfallen zu werden." Von einer Euphorie der Afghanen
für den ersten wirklich demokratischen Urnengang in ihrer
Geschichte kann keine Rede sein.
Gegen Mittag brennt die Sonne in Kandahar
unerbittlich. Wo bei uns in Deutschland die Mittagspause beginnt,
ist für viele Menschen hier Schicht. Sie stellen die Arbeit
ein. Hinter den Obstauslagen strecken die Verkäufer auf der
Holzbank ihre Beine lang und schlummern, nur unterbrochen von einem
kurzen Mittagsessen, in den Nachmittag hinein. Die Stadt erstarrt
vorübergehend. Erst am frühen Abend, wenn die Sonne
untergeht, blüht das Leben wieder auf. Auf dem Basar und
entlang der Hauptstraße liefern Bunsenbrenner Gaslicht, das
auf die Obstauslagen fällt. Längst sind nur noch
Männer zu sehen. Sie sitzen in Gruppen, an Tischen oder am
Boden, oft bis Mitternacht. "Dies ist eine Wahl, die uns von den
Amerikanern und den Koalitionskräften aufgedrängt wird",
sagt ein Kioskbesitzer in holprigem Englisch. "Natürlich
freuen wir uns, dass wir die Möglichkeit haben, für die
Person unserer Wahl zu stimmen. Unter König Zaher Shah wurde
auch gewählt, damals waren wir billiges Stimmvieh", erinnert
er sich. "Aber die Regierung Karsai hat in zwei Jahren nicht viel
erreicht. Fünf Kilometer außerhalb der Stadt sind die
Wege nicht geteert. Wir haben keinen Strom und kein fließend
Wasser." Ein bisschen gut und ein bisschen schlecht nennt er die
Wahl und meint, er werde hingehen. Die Chance dieser Wahl ist, dass
die meisten Afghanen kriegsmüde sind und bei aller Kritik am
Status Quo wenig Alternativen sehen.
"Die Leute wollen zu viel zu schnell. Bevor
mein Bruder Präsident wurde, war ein Dollar 70.000 Afghani
wert. Jetzt sind es 45. Wir haben tausende Schulen gebaut, Frauen
gehen wieder zum Unterricht. Die Menschen können wieder von
Kandahar nach Mazar fahren", sagt Walli Karsai und vermisst
positive Berichterstattung.
In Kandahar sprießen Neu-Bauten nicht
weniger rege als in Kabul. Es riecht in diesen Tagen nach einer
Gründerzeit in Afghanistan, wenn auch das investierte Geld in
vielen Fällen "stinkt", weil es aus dem Drogenhandel stammt
und afghanische Profiteure sich dafür ein Denkmal setzen. Der
Afghani, die Landeswährung wird von Woche zu Woche stabiler.
Gegenüber dem Dollar hat er bereits ein Zehntel aufgeholt.
Anfang August bekam man für einen Dollar 47 Afghani. Jetzt
sind es 42, und der Trend dauert an. Investitionen aus und
über Iran und Pakistan haben sich stabilisiert. Der andere
Teil, der den Afghani stabil erscheinen lässt, ist die
Gewissheit, dass die Wahl nun wirklich stattfinden wird.
Damit ist freilich noch nicht entschieden, ob
der Versuch ein Stück westliche Demokratie am Hindukusch
einzuführen, von Dauer ist. Afghanistan ist geprägt von
einer jahrhundertelangen Stammes-Tradition und Wahlen nach dem
Prinzip der Loya Jirga, in dem Shuras und Ältesten-Räte
Delegierte entsenden. "Vom Prinzip her sind beide Systeme
demokratisch, das der Jirgas nicht weniger als das der westlichen
Demokratie", findet Walli Karsai. Ob sie auch kompatibel sind,
werden die nächsten Jahre zeigen.
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