|
|
Hans-Martin Schönherr-Mann
Düstere Faszination
Arnold Gehlens radikale Kritik von Zivilisation
und Kultur
Der Mensch sei ein Mängelwesen! Diese von
Konrad Lorenz heftig kritisierte These - denn wie kann ein
Mängelwesen die Evolution überhaupt überstehen? -
durchzieht das Denken Arnold Gehlens. Seine philo-sophische
Anthropologie unterstellt, dass der Mensch seiner natürlichen
Umwelt verhältnismäßig schutzlos ausgeliefert sei.
Er besitzt weder an die Umwelt besonders angepasste Organe, noch
entsprechend ausgeprägte Instinkte, die sein Verhalten
automatisch steuern, um sein Überleben zu sichern.
Aufgrund seiner Mängel steht der Mensch
unter einem enormen Handlungsdruck, von dem er sich zu entlasten
sucht: Erstens durch den technischen Eingriff in die Welt; zweitens
durch die Bildung von Gemeinschaften und entsprechenden
Institutionen; drittens durch die Ausprägung einer bestimmten
dazu passenden psychischen Struktur.
Um also die Welt beherrschen zu können,
muss der Mensch nicht nur handeln, er muss sich selbst auch
entsprechend entwickeln. Gehlens Anthropobiologie, deren
Anfänge in die NS-Zeit zurückreichen, spricht vom
Menschen als Zuchtwesen. Sie verbindet damit Philosophie und
Biologie.
Arnold Gehlen, am 29.Januar 1904 in Leipzig
geboren und 1976 gestorben, wurde mit seinem Buch aus dem Jahr 1940
"Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt" ein
Vordenker des Nationalsozialismus. In der Kriegsgefangenschaft
orientierte er sich zunehmend an der amerikanischen Soziologie.
Bereits 1947 erhielt er einen Lehrstuhl an der Akademie für
Verwaltungswissenschaften in Speyer und 1962 einen Ruf nach
Aachen.
Gehlen avancierte zu einem konservativen
Mahner in der frühen Bundesrepublik. In diesem Sinne
entwickelte er die Soziologie ähnlich wie sein Freund und
Schüler Helmut Schelsky primär empirisch. Er beeinflusste
Peter Berger, Thomas Luckmann und Nicklas Luhmann. Sein Hauptwerk
ist seine modernitätskritische Kultur- und Technikanalyse von
1957 "Die Seele im technischen Zeitalter", das jetzt zusammen mit
thematisch verwandten Schriften als Band 6 der Gesamtausgabe
erschienen ist.
Alle kulturellen Errungenschaften - Staat,
Technik und Kunst - dienten bisher dazu, den Menschen von den
vielfältigen Herausforderungen und Verunsicherungen durch die
Umwelt zu entlasten. Die moderne Kultur dagegen, so Gehlen, leistet
das immer weniger. Anstatt seine Wahrnehmung einzuschränken,
sie zu verstetigen, was ihn beruhigen würde,
vervielfältigt die Moderne die Wahrnehmungsmöglichkeiten.
Der Mensch heute fühlt sich ständig bedrängt,
überfordert und reagiert gereizt.
Die moderne Kultur übersteigert die
Subjektivität. Früher versuchte der Mensch, zusammen mit
der Natur zu leben, sich in die Gesellschaft einzuordnen, heute
nicht mehr. Anstatt sich als Mängelwesen der notwendigen Zucht
zu unterwerfen und sich in eine universale Ordnung einzufügen,
verlangen die Men-schen heute nach immer mehr Wohlstand - eine
rechtskonservative Kritik, die Gehlen besonders für die
frühe Bundesrepublik formulierte, mit der er auch höhere
Rüstungsausgaben forderte.
Das stellt natürlich auch einen Zerfall
absoluter ethischer Werte dar - es ist die bereits in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts gängige These vom
Wertezerfall, die von Bergson über Gabriel Marcel bis zu Eric
Voegelin reicht. Man ist nicht mehr bereit, sich der Gemeinschaft
unterzuordnen, geschweige denn sich zu opfern. Die
gesellschaftliche Moral verschwimmt im Werterelativismus. Es
verwundert dann nicht, wenn Leitbilder verblassen und an die Stelle
des Gesunden gar das Kranke tritt, das ob seiner Drastik noch das
Maximum an ethischer Orientierungskraft entwickelt. Die
"großen Toreöffner" der Moderne wie Kierkegaard,
Nietzsche, van Gogh und Strindberg sind selbst von Krankheit
gezeichnet.
Daran schließt auch Gehlens harsche
Intellektuellenkritik der 60er-Jahre an: Die moderne Kultur lenkt
die menschliche Antriebsenergie nur noch unzureichend. Das
Mängelwesen Mensch braucht aber Gewohnheiten, Institutionen
und feste Vorstellungen. Daraus folgert Gehlen eine Psychologie der
Zucht: die Kultur sollte den menschlichen Charakter erziehen und
stabilisieren. Doch wohin die kulturelle Reise geht - das weiß
Gehlen sehr genau - ist offen.
Arnold Gehlen
Die Seele im technischen
Zeitalter.
Band 6 der Gesamtausgabe; Vittorio
Klostermann, Frankfurt/M. 2004; 898 S., 94,- Euro
Urmensch und Spätkultur.
Moral und Hypermoral.
Erweiterte Neuauflagen, Klostermann
Seminar,
Frankfurt/M. 2004; 318 S., 21,- Euro
beziehungsweise
196 S., 19,- Euro
Zurück zur Übersicht
|