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Imke Rosebrock
Eine Hand voll Reis und nachts heimlich
Fitness-Übungen aus der Frauenzeitschrift
Erst kommt die Magersucht, dann die Bulimie: Wie
Teenager den Kontakt zu ihrem Körper verlieren
Eine Hand voll Reis vielleicht, mehr hat Lara* damals an manchen
Tagen nicht gegessen. Dafür hat sie Sport gemacht, viel Sport,
ihren Körper gequält und nachts heimlich
Fitness-Übungen aus Frauenzeitschriften nachgemacht. Sie wurde
dünn, immer dünner, hatte Untergewicht. Also begann sie,
mehr zu essen, damit die Eltern beruhigt sein konnten. Dass sie
auch damit anfing, das Essen heimlich wieder zu erbrechen, hat
keiner mitbekommen.
Lara war elf Jahre alt, als es mit ihren Ess-Störungen los
ging. Ständiger Leistungsdruck im Elternhaus, ein
prügelnder Vater, und Freunde hatte sie irgendwann auch kaum
noch. "Ich habe mich unwohl gefühlt in meinem Körper und
sehr verzerrt im Spiegel gesehen", beschreibt die 17-Jährige
es heute. "Man macht das nicht nur, weil man dünn sein will."
Die junge Frau mit dem hübschen Gesicht erzählt ruhig und
reflektiert aus ihrem Leben. Sie spricht von Kontrolle, die man
zwar nicht über seine Umwelt hat, aber wenigstens über
den eigenen Körper. Hungern, Ess-Attacken, Brechen,
Abführmittel, Kalorientabellen auswendig lernen, exzessiver
Sport: Lara war erst magersüchtig, jetzt leidet sie an der
Essstörung Bulimie.
Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht), Anorexia nervosa (Magersucht)
oder Binge-Eating (Esssucht mit Heißhungerattacken) gelten als
psychosomatische Störungen, die die Gesundheit oder gar das
Leben der Betroffenen in Gefahr bringen können. Während
eine Magersucht oder eine Esssucht sich irgendwann
äußerlich meist nicht mehr verbergen lassen, sieht man
Bulimikern nicht unbedingt an, worunter sie leiden. Bei meist
heimlichen Essanfällen werden bis zu 6.000 Kalorien verzehrt,
andere Schätzungen sprechen gar von bis zu 20.000 Kalorien.
Zum Vergleich: Ein Erwachsener, der seinen Arbeitstag im Büro
verbringt und sich ab und zu zum Joggen aufrafft, braucht
vielleicht 2.500 Kalorien am Tag. Durch Erbrechen oder auch mit
Abführmitteln versuchen die Betroffenen, die Kalorienzufuhr
ungeschehen zu machen. So mag die Figur zwar "normal" bleiben, die
Liste der möglichen körperlichen Schäden ist jedoch
lang: Sie reicht von Schwellungen der Speicheldrüsen über
Zahnschmelzschäden bis hin zu Nierenschäden und
Herzrhythmusstörungen.
Immer mehr Männer sind betroffen
Es gibt keine gesicherten Daten darüber, wie viele Menschen
in Deutschland an Essstörungen leiden. Es kursieren
Schätzungen, wonach mehr als 100.000 Frauen zwischen 15 und 35
Jahren an Magersucht leiden, etwa 600.000 an Bulimie. Die beiden
Störungen gelten als typische Frauenkrankheit, dabei nehmen
Experten an, dass zehn bis 15 Prozent der Bulimiker und
Magersüchtigen männlich sind. Prominentes Beispiel: Der
Popliterat Benjamin von Stuckrad-Barre hat seine Bulimie
öffentlich zugegeben. Es gibt unterschiedliche
Einschätzungen darüber, ob die Zahl der betroffenen
Männer wirklich zunimmt, oder ob sich nur mehr Betroffene
wagen, mit ihrem Problem nach Außen zu gehen. Wenn es für
Essstörungen generell schwierig ist, genaue Zahlen
festzulegen, ist gerade bei Männern die Dunkelziffer hoch, so
die Einschätzung von Hartmut Imgart. Der Mediziner und
Psychotherapeut leitet die Fachabteilung für Essstörungen
an der privaten Parkland-Klinik in Bad Wildungen. "Männer
begeben sich oft später in Behandlung als Frauen, wenn sie es
überhaupt tun", weiß er aus der Praxis zu berichten.
Ein "richtiger Mann", der ganz cool alles im Griff hat, oder ein
Softie, der offen über seine Gefühle und Ängste
sprechen kann? Ein Macho, der stolz seinen Bierbauch pflegt, oder
der sexy Model-Typ, der sich im Fitnessstudio in Form hält?
"Männliche Identität ist heute nicht mehr
selbstverständlich", sagt Hartmut Imgart. Dass
Schlankheitskult und Schönheitswahn längst keine
Domäne der Frauen mehr sind, zeigt ein Blick in die
Zeitschriftenregale, wo sich heute neben "Brigitte" und "Für
Sie", bekannt für ihre Diättipps, auch die
Lifestyle-Magazine für Männer tummeln. Solche Trends
könnten ein möglicher Grund dafür sein, dass 13
Prozent der männlichen Schüler und Studenten
Frühsymptome einer Essstörung aufweisen. Bei Frauen sind
es 29 Prozent. Zu diesen Ergebnissen kommt zumindest eine Studie
der Universität in Jena. Das Institut für medizinische
Psychologie hat über 700 Probanden zwischen zwölf und 32
Jahren untersucht. Dabei gaben gut ein Fünftel der Männer
und 43 Prozent der Frauen an, in den letzten zwölf Monaten
eine Diät gemacht zu haben.
Doch Diäten können eine "Einstiegsdroge" für eine
Essstörung sein, bestätigen Fachleute wie Sylvia Baeck,
Geschäftsführerin des Berliner Beratungszentrums "Dick
und Dünn e.V.". Seit 20 Jahren berät man hier Betroffene
und Angehörige, macht Aufklärungsarbeit an Schulen oder
auch bei Ärzten. "Wir arbeiten nicht mit Diäten, sondern
versuchen heraus zu finden, welche Bedeutung das Essen für die
Betroffenen überhaupt hat", beschreibt Sylvia Baeck das
Konzept. Isst man aus Frust, aus Angst, aus Langeweile? Hungert
man, weil man sich selbst, den Eltern, dem Freund etwas beweisen
will? Sensibel werden für die eigenen Empfindungen und
Bedürfnisse und die Hintergründe für das
gestörte Ess-Verhalten erkennen. Zugleich die
zerstörerischen Aspekte und die Notwendigkeit einer
professionellen Behandlung sehen: Das ist der Ansatz der
Beraterinnen. Es gelte, den Unterschied zwischen emotionalem und
körperlichem Hunger zu verdeutlichen, heißt es bei "Dick
und Dünn".
Kontrolle und Macht, und der Verlust der beiden - das sind
wichtige Aspekte in der Psychologie der Essstörungen, wie auch
die Unsicherheit über die eigene Identität.
Abschließend geklärt sind die Ursachen von Magersucht,
Bulimie oder dem Binge-Eating, also der Esssucht mit
Heißhungerattacken, jedoch nicht. In der Beratungs- und
Aufklärungsliteratur wird häufig angeführt, dass
traumatische Kindheitserlebnisse wie Gewalt und Missbrauch ebenso
wie ein zu sehr behütetes Elternhaus, in dem Kinder kein
ausreichendes Selbstbewusstsein entwickeln können, ein
psychologisches Fundament für die Krankheiten darstellen
könnten.
Doch die Forschung sucht auch in den Bereichen der Biologie,
Neuropsychologie oder Genetik nach möglichen Ursachen. "Neue
Therapieansätze in dieser Richtung sind jedoch noch nicht in
Sicht", räumt Martin Grunwald von der Universität Leipzig
ein. Der Psychologe und Gründer der Deutschen
Forschungsinitiative Essstörungen e.V. betreut mit seinen
Kollegen den "ab-server", eine Webseite, auf der sich zahlreiche
Betroffene oder auch Angehörige in Diskussionsforen treffen
und Erfahrungen, Tipps und aufmunternde Worte austauschen. Die
Beiträge geben einen Einblick, wie schwer für viele der
Weg aus der Essstörung ist: "Ich habe jetzt seit 42 Tagen
nicht mehr erbrochen, hab' aber mittlerweile fünf Kilo
zugenommen", vertraut sich hier jemand dem Forum an. Und weiter
heißt es: "Ich will gesund essen! Ich will gut leben! Ich
will... aber nicht dick sein..." Die Antwort einer anderen im Chat
folgt prompt: "Lerne du nur dich und deinen Körper zu
akzeptieren. Ich habe mit dem Kotzen angefangen wegen seelischen
Problemen. Glaub mir, es gibt viele Menschen, die dich so lieben
wie du bist."
Die Einsicht, dass sich etwas ändern muss, ist eine
grundlegende Voraussetzung, um einen Weg aus den Essstörungen
zu finden. Doch das ist manchmal eine schwierige Sache. Viele
Experten bestätigen, dass gerade Magersüchtige ihre teils
schon lebensgefährliche Situation oft lange nicht wahrhaben
wollen. Im Internet tummeln sich neben den seriösen
Beratungsangeboten und Foren auch Webseiten, die die Fachleute als
hochgefährlich einstufen. Die Macherinnen so genannter
Pro-Ana-Seiten, also Pro-Anorexie-Seiten, proklamieren Magersucht
als Lebensstil und verwahren sich dagegen, als Kranke behandelt zu
werden. Kontrolle über sich selbst als Zeichen wahrer
Charakterstärke wird hier propagiert. So heißt es auf
einer Seite aus den USA: "Es gibt hier keine Opfer, und Reife wird
an der Akzeptanz der persönlichen Verantwortlichkeit gemessen,
nicht an den Geburtstagen, die man überlebt hat."
Tipps, wie man immer weiter abnehmen und Angehörige und
Freunde hinters Licht führen kann, werden detailliert
ausgebreitet: Wer vom Freund ins Restaurant eingeladen wird, solle
vorab schon mal dort anrufen und unter einem Vorwand den Kalorien-
und Fettgehalt der Speisen erfragen. Und ein Wohnungsputz und
ständiges beschäftigt sein könne angeblich helfen,
den Hunger zu vergessen. Mit Kerzenschein und kruder Zahlenmystik
werden in einem Ritual die "bösen" Lebensmittel aus dem Leben
verbannt.
Auf der Liste der "sicheren" Lebensmittel stehen gerade mal mit
Vitaminen angereichertes Wasser und Brühe. Diätpläne
kursieren, die eine tägliche Aufnahme von 200, 400, maximal
600 Kalorien vorsehen. Und damit man durchhält, gibt es so
genannte Trigger-Bilder, die die Mädchen und Frauen ins
Internet stellen: Models, Popstars und Balletttänzerinnen
halten auf ihnen ihre knochigen Hüften in die Kamera. Die
Macherin einer solchen englischsprachigen Seite schreibt, warum sie
so lebt: "Ich bin jetzt fast 16 Jahre alt. Meine Eltern sind
geschieden, mein Vater ist Alkoholiker, meine Mutter leidet an
Depressionen und manchmal rutscht ihr die Hand aus. Wenn ich
Gewicht verliere, hoffe ich, dass ich alles was böse, eklig,
gierig und bedürftig in mir ist, auch los werde. Aber im Lauf
der Jahre habe ich festgestellt, dass ich nur das Gute in mir
verloren habe und festsitze mit dem, was ich so dringend aus mir
austreiben wollte. Ich werde so glücklich sein, wenn ich die
nächsten fünf Pfund los bin." Ob Pro-Anas wirklich
freiwillig hungern, darf wohl bezweifelt werden.
"Wenn solche Links bei uns in den Internet-Foren und Chats
auftauchen, entfernen wir sie", sagt Martin Grunwald. Solche Seiten
seien vor allem für junge Mädchen, die noch auf der
"Kippe" stehen, eine Gefahr. Verbote haben bekanntermaßen
wenig Auswirkungen auf das Erscheinen solcher Seiten, denn im
Internet lassen sich immer neue Wege der Verbreitung finden.
Das weiß auch Martin Grunwald. Er setzt daher auf
Aufklärung. Auf den Seiten des "ab-servers" können
Betroffene, Angehörige und Interessierte anonym Anfragen
stellen und sich über bundesweite Therapieplätze,
Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und den Stand der Forschung
informieren. Etwa 140 E-Mail-Anfragen gehen monatlich bei dem
Server in Leipzig ein. Mehr als die Hälfte davon sind von
Betroffenen, 30 Prozent von Eltern, Freunden und Angehörigen.
"Unsere Erfahrung zeigt, dass sehr viele sich bei uns zum ersten
Mal an professionelle Hilfe wenden, denn gerade junge Leute kennen
sich mit dem Internet aus und nutzen diese Gelegenheit, unerkannt
zu bleiben", beschreibt Grunwald die Vorteile eines
Online-Angebotes.
Lara hat sich hingegen getraut, direkt in eine Beratungsstelle
in ihrer Stadt zu gehen. Sie will etwas ändern. Lange Zeit
hatte sie niemandem von ihren gestörten Ess-Gewohnheiten
erzählt. Auch heute wissen ihre Freunde noch nichts davon, und
zu ihren Eltern hat sie ohnehin keinen Kontakt mehr. Aber seit ein
paar Monaten weiß sie, dass sie ihre Bulimie - sie nennt sie
"das zweite Gesicht" - endgültig loswerden will. "Ich will
versuchen, mein Leben normal zu leben. Das Versteckspiel ist das
Schlimmste, weil ich eigentlich ein ehrlicher Mensch bin", sagt
sie. Jetzt möchte sie an einer Gruppe mit anderen Betroffenen
teilnehmen. "Die verstehen mich und wollen auch davon loskommen",
sagt sie und lächelt dabei. Sie kann es schaffen. Imke
Rosebrock
* Name von der Redaktion geändert
Adressen:
www.ab-server.de
www.dick-und-duenn-berlin.de; Tel.: 030-854 4994
Informationsangebot der Budeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung: www.bzga-essstoerungen.de
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