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Volker Koop
Vertrauensverlust alarmiert Politik
Stell Dir vor, es ist Wahl und keiner geht
hin
2004 ist in mancherlei Hinsicht ein Jahr der
Rekorde: Selten ist das Wahlvolk derart häufig zur Stimmabgabe
aufgefordert worden wie in diesem Jahr, und selten hat es derartige
Abstinenz beim Urnengang - speziell bei der Europawahl -
geübt, wie in den zurückliegenden Monaten. Eine
Trendwende bei den noch anstehenden Wahlen ist nicht absehbar.
Wahlforscher und Politiker machen sich Gedanken über die
Ursachen und darüber, wie wieder mehr Menschen dazu bewegt
werden könnten, ihr Wahlrecht wahrzunehmen. Häufig
gehörte Stichwörter in der Debatte sind dabei
"Politikverdrossenheit", "Parteienverdrossenheit" oder gar
"Staatsverdrossenheit".
Die Stimmung im Lande sei schlecht, stellt
der Parlamentarische Geschäftsführer der
FDP-Bundestagsfraktion, Jörg von Essen, fest. Immer wenn die
Wahlbeteiligung merklich zurückgegangen sei oder die
Großparteien an Stimmen verloren und kleine Parteien am Rande
des politischen Spektrums Wähler gewonnen hätten, werde
gern die Krise des Parteienstaates und der parlamentarischen
Demokratie beschworen. Die Meinungen darüber, wie eine hohe
Nichtbeteiligung zu bewerten sei, gingen auseinander, doch wolle er
die Entwicklung nicht rundweg als bewussten politischen Akt der
Wahlverweigerung interpretieren; dies werde der Sache sicherlich
nicht gerecht. Die Entscheidung, so der FDP-Abgeordnete, nicht zur
Wahlurne zu gehen, könne genau so gut daraus resultieren, dass
die Bedeutung einer Wahl nicht gesehen werde oder vom Wahlergebnis
keine nennenswerten Veränderungen erwartet würden.
Speziell für die Europawahl habe dies beispielsweise bedeutet,
dass für den Bürger das Europäische Parlament viel
zu wenig greifbar sei. Aber unabhängig von der Wahlbeteiligung
bei den Europawahlen kann Jörg von Essen keinen Grund zur
Resignation erkennen: "Ich sehe das Interesse des Bürgers an
Politik, wie die lebhafte Diskussion um die Reformen in unserem
Land zeigt. Hier von einer Abkehr des Bürgers von der Politik
zu sprechen, ist sicherlich nicht angebracht. Aber Politik und
Medien sind in der Verantwortung, den Wählern auch
nachvollziehbare Entscheidungen zu präsentieren und diese auch
differenziert darzustellen."
Eine allgemeine Politikverdrossenheit sieht
auch Laurenz Meyer nicht, vielmehr werde das "allgemeine Chaos der
gegenwärtigen Politik" allen Parteien zugerechnet. Der
CDU-Abgeordnete und Generalsekretär seiner Partei ist vielmehr
überzeugt, dass heute mehr Menschen an Politik interessiert
sein als noch vor zehn Jahren. Wichtig sei es, ihnen das
Gefühl zu nehmen, sie könnten ja doch nichts ändern.
Die Menschen wollten, dass die Parteien mit eindeutigen Botschaften
an sie heranträten und das Gesagte auch umsetzten. Gegen die
Annahme von Politikverdrossenheit spricht nach Laurenz Meyer auch,
dass sich die Menschen in Bürgerinitiativen und ehrenamtlichem
Engagement sehr wohl für das Gemeinwesen einsetzten. Dazu
gehöre, dass sie klar erkennen könnten, wer wofür
Verantwortung trage. Reformen seien deshalb unerlässlich.
Meyer: "Misstrauen gegenüber Parteien und Politikern
rührt schließlich auch von der gewaltigen Bürokratie
in Deutschland her. Wir verfügen heute über fünfmal
soviel öffentliche Verwaltung wie in den 50er-Jahren. Es ist
aber auch möglich, die Bürokratie wieder
zurückzudrängen, wie wir in einigen Bundesländern
gezeigt haben." Eine Politik der Bürgernähe und
langfristigen Perspektive in allen Bereichen und auf allen Ebenen
sei erforderlich, dann werde auch das Vertrauen der Deutschen in
die Fähigkeit der Politiker wieder zunehmen. Der
Unionsabgeordnete gibt sich optimistisch, "dass die Wahlbeteiligung
zum Beispiel bei den nächsten Bundestagswahlen, wenn über
drängende Sach- und Personalfragen in Deutschland abgestimmt
wird, wesentlich höher sein wird".
Als ein Alarmsignal bezeichnet
demgegenüber der SPD-Abgeordnete und -Generalsekretär
Klaus Uwe Benneter die sinkende Wahlbeteiligung. Wahlen seien in
der Demokratie das zentrale Element der Willensbildung, und nach
dem Grundgesetz übe das Volk mittels "Wahlen und Abstimmungen"
die Staatsgewalt aus. Umfragen zeigten, dass sich bei den
Bürgerinnen und Bürgern der Eindruck festsetze, es sei
egal, "wer da oben" regiere. Benneter: "Als
SPD-Generalsekretär sehe ich hier einen Ansatzpunkt. Wir
müssen das Profil unserer Partei schärfen, die
Unterschiede und Alternativen zu den politischen Konkurrenten
aufzeigen. Wir müssen beispielsweise zeigen, dass es eben
nicht egal ist, ob in Zukunft die Gesundheitsvorsorge über
eine Kopfgeldpauschale für jeden - wie bei der Union - oder
die solidarische Bürgerversicherung der SPD nach dem Grundsatz
‚Starke Schultern tragen mehr als schwache' finanziert wird."
Nur durch klare Gegenüberstellungen würden die Menschen
das Gefühl haben, dass es nicht einerlei sei, ob sie
wählen gingen und wen sie wählten. Natürlich sei es
erforderlich, sich stets aufs Neue zu bemühen, politische
Entwicklungen in den Abläufen so verständlich
darzustellen, dass Planungen, Verhandlungen oder Beratungen und
konkretes politisches Handeln durchsichtig und einsichtig
würden. Im politischen Alltag falle das nicht immer leicht -
genau hier aber liege die Verantwortung. Im Übrigen verweist
Klaus Uwe Benneter auf die Mitverantwortung der Medien: "Denn auch
die Art der Berichterstattung prägt das Bild, welches die
Bevölkerung von Politik hat. Nicht nur Skandale und
Sensationen, auch seriöses Arbeiten muss wieder Erwähnung
finden. Es sind also sowohl Politik als auch die vermittelnden
Medien gefragt, wenn es um Wege aus der Vertrauenskrise
geht."
Der Grünen-Abgeordnete Hans-Christian
Ströbele sieht in der Politik-Abstinenz und -Feindlichkeit
sowie der damit gegebene Anfälligkeit für Populismus eine
Folge der eingeschlagenen gesellschaftspolitischen Strategie. Es
vollziehe sich ein grundsätzlicher Wandel im
Wählerverhalten, der den grundsätzlichen Umbau im
gesellschaftlichen Gefüge abbilde: "Es findet eine Spaltung
statt in diejenigen, die noch in politische Diskurse eingebunden
sind, und diejenigen, die langfristig herausfallen. Dies ist nicht
nur - wie oft betont - eine Folge der alten korporatistischen
Integration, der Zweiteilung in Arbeitgeber und Arbeitnehmer, in
Konservative hier, Sozialdemokraten dort. Es ist auch die Folge
einer spezifischen Politik, die in den Vordergrund stellt:
‚There is no alternative'. Dieses Motto, von Frau Thatcher
formuliert, wurde von der weltweiten Sozialdemokratie (des
‚Dritten Weges') aufgenommen. Clinton, Prodi, Vranitzky,
Jospin und Schröder traten an mit der Vorstellung, dass nur
die Sozialdemokratie mit ihrer Massenbasis die gigantischen
Umbrüche, die die Überwindung der Industriegesellschaft
mit sich bringt, politisch tragen kann. Sie hatten daher die
Vorstellung, dass nun ein sozialdemokratisches Jahrhundert vor
ihnen läge, in der sie die Konservativen als
Dauerregierungsmacht ablösen. Dies hat sich als
verhängnisvoller Irrtum erwiesen. Die Vorstellung, es ginge
nur darum, überhaupt Reformen durchzusetzen, die
grundsätzliche Trennung in Reformer und Reformgegner, die
Politik, alles zu konzentrieren auf die Frage ‚Reformen - ja
oder nein?' statt ‚Reformen - so oder so', dies hat
verhindert, eine gesellschaftliche Debatte über das
‚wie' der Reformen zu führen und damit die Basis
für einen neuen gesellschaftlichen Integrationsmodus oder
‚Kompromiss' zu legen." Selbstverständlich sei - so der
Grünen-Abgeordnete weiter - die Notwendigkeit zu Reformen
gegeben, also alternativlos. Aber alternativlos seien eben nicht
die Reformen selber; mit der Behauptung der Alternativlosigkeit
würden bestimmte Strukturen durchgesetzt, ohne
gesellschaftliche Akzeptanz, "handwerklich
unausgereift".
Ströbeles Fazit: "Die politische Klasse
muss endlich lernen, nicht die ‚Verlierer' zu bearbeiten,
dass sie gefälligst die absolute Notwendigkeit genau der
gemachten Reformen einsehen solle sondern sie muss selber
reflektieren, ob sie einen echten Wettbewerb der Konzepte
anbietet."
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