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Oliver Heilwagen
Massenexodus mit dem Möbelwagen
"Schrumpfende Städte": Eine Ausstellung in
den Berliner Kunst-Werken
Dass die Geschäfte in den
Fußgängerzonen reihenweise schließen und Unkraut die
Zufahrtsstraßen überwuchert, können sich Hamburger,
Kölner oder Münchner kaum vorstellen. Aber andernorts ist
diese apokalyptische Vision verödender Innenstädte
längst Realität. Etwa in Ostdeutschland: Dort stehen
derzeit 1,3 Millionen Wohnungen leer, weil seit 1990 rund eine
Million Menschen in den Westen abgewandert ist. Von diesem
Massenexodus mit dem Möbelwagen bleiben die alten
Bundesländer zwar verschont. Doch sie werden die Folgen
flächendeckender Entmietung bald ebenfalls kennen lernen, da
die Zahl der in Deutschland Lebenden stetig abnimmt.
Laut Schätzungen werden Dortmund oder
Essen 2015 so entvölkert sein wie heute bereits Görlitz
oder Magdeburg. Und das Phänomen ist nicht auf die
Bundesrepublik beschränkt: Weltweit sind mehr als 400 der
Städte mit über 100.000 Bewohnern in den letzten 50
Jahren deutlich geschrumpft.
Die mit der Industrialisierung einher gehende
Verstädterung der Erde hat ihren Zenit offenkundig
überschritten, weil das Bevölkerungswachstum sich
verlangsamt hat. Während wenige Metropolen, vor allem in den
Entwicklungsländern, rasant weiter wuchern, bluten viele
andere Orte aus. Mit zunehmendem Tempo: Im vergangenen Jahrzehnt
hat jede vierte Stadt des Planeten merklich an Einwohnern verloren.
Für unsere zeitgenössische Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnung, die auf endloses Wachstum eingeschworen ist,
stellt dies einen schwer verkraftbaren Paradigmenwechsel dar: Sie
verfügt kaum über Rezepte, wie sie mit verlassenen Wohn-
und Gewerbegebieten umgehen soll. Denn es reicht nicht aus, solche
Gegenden mit sinkender Lebensqualität sich selbst zu
überlassen. Die so genannte Leerstandsspirale - je mehr Leute
fortziehen, desto mehr folgen ihnen - führt rasch zu
Verslumung, sozialer Verelendung und Kriminalität.
Diesem Problemkreis widmet sich nun die
Ausstellung "Schrumpfende Städte", die bis Anfang November in
den Berliner Kunst-Werken gezeigt wird. Das von dem Architekten
Philipp Oswalt initiierte und von der Bundeskulturstiftung
finanzierte Forschungsprojekt ist auf drei Jahre angelegt und
läuft bis 2005. Dementsprechend hat die Schau weniger Kunst-,
als vielmehr Werkstatt-Charakter. Oswalts Team hat den
Schrumpfungsprozess an vier besonders drastischen Beispielen
untersucht: dem englischen Manchester und Liverpool, dem
amerikanischen Detroit, dem russischen Ivanovo und dem Raum
Halle/Leipzig. In diesen Städten hat sich die Einwohnerzahl im
Laufe der Zeit nahezu halbiert.
Der Niedergang von Manchester und Liverpool
begann schon in den 1930er-Jahren. Damals gingen die meisten Jobs
in den Exporthäfen und der Textilbranche verloren, weil das
wichtigste Abnehmerland Indien anfing, britische Stoffe zu
boykottieren. Diese Deindustrialisierung war in der Automobil-Stadt
Detroit nicht Ursache, sondern Ergebnis einer "Suburbanisierung",
die Anfang der 1960er-Jahre einsetzte. Nachdem der Staat zahlreiche
neue Highways gebaut und billige Kredite zum Hausbau vergeben
hatte, strömten die bisherigen Städter ins Umland, um
dort ihre Eigenheime zu errichten. In das vernachlässigte
Stadtzentrum zogen ärmere Schwarze aus den US-Südstaaten
nach, was die Abwanderung der begüterten Weißen nur
beschleunigte.
Diese in vielen Ländern zu beobachtende
Stadtflucht erreichte in Detroit eine seltene Radikalität:
Sogar die Friedhöfe wurden in die Vorstädte verlegt und
die Toten umgebettet. Hingegen wurde das 300 Kilometer
nordöstlich von Moskau gelegene Ivanovo zum Opfer des
Zusammenbruchs der sowjetischen Planwirtschaft nach 1990. Die
lokale Textilindustrie verlor ihre Absatzmärkte. Die Betriebe
wurden geschlossen; die orientierungslose Bevölkerung blieb
ohne Verdienstmöglichkeit. Und im früheren Chemie-Dreieck
zwischen Halle und Leipzig traten nach der deutschen
Wiedervereinigung alle drei Faktoren gleichzeitig auf:
Deindustrialisierung, Suburbanisierung und postsozialistische
Transformationsprobleme.
Trotz aller Unterschiede haben die
betroffenen Städte doch dreierlei gemeinsam. Erstens waren sie
völlig von einem einzigen Wirtschaftszweig abhängig: Ihre
industrielle Monokultur hatte ihnen am Anfang des 20. Jahrhunderts
eine Boomphase beschert, löste aber später auch ihren
Verfall aus. Außerdem erlebten diese Kommunen eine "regionale
Neustrukturierung". Während die Zentren ausdünnten und
verarmten, blühte die suburbane Peripherie auf und wurde
wohlhabend: Sowohl im Falle Manchesters als auch Detroits befinden
sich zwei der reichsten Kreise des gesamten Landes unmittelbar
hinter der Stadtgrenze.
Schließlich hatten alle Versuche, die
Innenstädte wieder zu beleben, nur bescheidenen Erfolg. Am
spektakulärsten scheiterte das 1977 für 340 Millionen
Dollar in Detroit errichtete "Renaissance Center". Dieses
festungsartige, von einer Betonmauer abgeschirmte Ensemble aus
Wolkenkratzern mitten in der City fand nie den erhofften Zuspruch.
Zwei Jahrzehnte darauf wurde es von General Motors für ein
Fünftel des Baupreises übernommen und zur Konzernzentrale
umgestaltet. Diese so triste wie trockene Thematik haben die
Ausstellungsmacher bewundernswert anschaulich aufbereitet. Zahlen
und Daten werden auf originell gestalteten Schautafeln
präsentiert, Fotoserien und Videos dokumentieren das
Lebensgefühl auf verwaisten Straßen und in
Brachlandschaften. Teilweise geraten die der Information
verpflichteten Arbeiten dennoch zu wahren Kunstwerken: Das
milliardenschwere Hilfsprogramm "Stadtumbau Ost", mit dem der Bund
Abriss und Entschuldung von Plattenbauten in Ostdeutschland
finanziert, wird durch einen brillant gezeichneten Comic
erklärt.
Doch die vorgestellten
Lösungsansätze überzeugen nicht.
Frührentner-Existenzformen, Club-Kultur und "Luxus-Urbanismus"
mit Museen, Lofts und Einkaufspassagen in ehemaligen
Industriebauten können allenfalls punktuell für Besserung
sorgen, aber den Ruin ganzer Städte schwerlich aufhalten. Was
sich dagegen unternehmen ließe, wollen die Organisatoren mit
einer weiteren Ausstellung in Leipzig im Herbst 2005
ausführlich darstellen. Man darf gespannt sein, was aus den
Geisterstädten der Zukunft werden soll.
Bis 7. November in den Kunst-Werken,
Auguststraße 69, Berlin-Mitte. Dienstags bis sonntags 12 - 19
Uhr, donnerstags bis 21 Uhr. Katalog 22 Euro.
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