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Balduin Winter
Die slawischen Brüder
Die Sorben - eine noch zu entdeckende Minderheit
in Deutschland
Südöstlich von Berlin beginnt eine
andere Region, erkennbar an Ortstafeln mit zweisprachiger
Aufschrift, etwa Lübben, und darunter steht: Lubin. Das ist
das Land der Sorben, Deutschlands nichtdeutsche Deutsche, von denen
die meisten deutschen Deutschen nahezu nichts wissen. Spricht man
von der Lausitz (ein Wort sorbischer Herkunft übrigens), denkt
man bestenfalls an Braunkohle im Tagebau, an riesige
Mondlandschaften, wo den Menschen die Dörfer unter dem Hintern
weggebaggert werden.
Fußballfreunde kennen noch Energie
Cottbus, politische Quergeister wissen etwas mit Bautzen/Budysin
und seinem einst berüchtigten Gefängnis anzufangen,
Bildungsbürger mit dem Städtchen Kamenz als Geburtsort
Lessings. Namen hingegen wie Jurij Khežka, Kito Lorenc,
Róža Domašcyna sind den allermeisten
Literaturprofessoren unbekannt, obwohl es die Namen hervorragender
Dichter sind.
Sie repräsentieren ein Volk, das heute
zwar nur noch rund 60.000 Angehörige zählt, das aber
schon seit Urgedenken - seit dem 7. Jahrhundert - hier
ansässig ist. Wie andere elbslawische Völker wurden auch
sie von den ostwärts drängenden germanischen Fürsten
unterworfen, ohne je durch Auswanderung, Ausrottung oder
Assimilation völlig von der Landkarte zu
verschwinden.
Es ist ein bäuerlicher Siedlungsraum mit
langer Tradition - den Menschen wurde freilich die Entfaltung ihrer
Kultur über lange Zeit beträchtlich schwer gemacht durch
Sprachverbote, ethnische Segregation und Ausschluss aus
öffentlichen Ämtern. Die Alldeutschen unter Bismarck
sprachen von "Kulturreaktionären", Friedrich Engels von
"Völkerschutt". Für Konservative wie Linke war allein
Assimilation die Lösung; die Nationalsozialisten wollten mit
den "slawischen Menschentieren" ein für alle Mal
aufräumen.
Kein Wunder, dass die Literatur nicht von
Epen wimmelt, dass die lange unterdrückte Sprache
überhaupt erst im 19. Jahrhundert literaturfähig wird.
Die Lyrik ist das dominante Feld, die Entwicklung vollzieht sich
vom Volkslied zum Gedicht. Und das ist eines der Verdienste der von
Kito Lorenc vorgelegten Anthologie "Das Meer Die Insel Das Schiff":
Sie geht von eben diesen Anfängen aus und skizziert den
Werdegang sorbischer Lyrik.
Man kann dieses Buch auf sehr verschiedene
Weisen lesen. Die ersten Volkslieder dieser Sammlung stammen aus
der Zeit um 1500, der Bogen des Bandes spannt sich bis in die
unmittelbare Gegenwart; man hat sozusagen Leitmotive sorbischen
Lebens - und Glaubens - aus fünf Jahrhunderten vor sich
liegen. Es erzählt nicht von Glanz und Prunk des Adels und der
Geistlichkeit, sondern von Fron und Zehnten, von wandernden
Gesellen und jungen Mädchen, deren Liebste in fremde Kriege
ziehen müssen. Es ist das Leben der unteren
Schichten.
Doch kommen auch Liebe und Lebenslust nicht
zu kurz. Man weiß Feste zu feiern, man liebt die Heimat und
findet gegen Unterdrücker manch rebellisches Wort.
Natürlich bekommt man es auch mit den verschiedenen
literarischen Epochen zu tun, allerdings nicht unbedingt
deckungsgleich mit den Epochen in der deutschen Literatur,
spätestens seit der literarischen Avantgarde der vorletzten
Jahrhundertwende holen sich sorbische Dichter ihre Anregungen auch
außerhalb Deutschlands: Surrealismus und Poetismus haben ihre
Spuren hinterlassen, also Paris und Prag.
Insgesamt sind zwei große
Evolutionslinien in der neueren Lyrik zu erkennen. Eine ältere
Linie mit ihrer Dominanz der Tradition über die Innovation,
des Kollektivs über das Individuum, angelehnt an die
Thementriade Heimat (Folklore), Religion, Muttersprache; und eine
jüngere Linie, die den Bruch mit der Tradition vollzogen hat,
die Hand in Hand mit den ökonomischen und sozialen
Umwälzungen geht. Hier dominiert der Alltag, der Einbruch der
globalisierenden Welt in die sorbische Sprachinsel, der
Ablöseprozess des Individuums aus den alten und zerbrechenden
Kollektiven, der Umbruch des Frauenbildes.
Die neuen Dichter bedienen längst keine
Heimatidylle mehr. Sie sind Universalisten, und "sorbisch"
bezeichnet lediglich die Sprache, in der sie schreiben. Nicht
zuletzt ändert sich auch die Haltung zur Sprache: Die einst
streng getrennten, polar konzipierten deutsch-sorbischen
Sprachwelten beziehen das alltägliche "code-switching" in sich
ein. Wie es für Kneipengäste ganz normal ist, mitten im
Satz von einer Sprache in die andere zu springen, so findet man
dies auch bei den Dichtern.
Insbesondere Róža Domašcyna
entwickelt große Meisterschaft im Überschreiten der
Sprachgrenzen. Wie überhaupt Kito Lorenc und sie in
Deutschland lyrische Spitzenklasse sind. Die Deutschen sind leider
kein Volk von Seefahrern - wer von den deutschen Landbewohnern
kennt schon die sorbische Insel? Dabei ist Kito Lorenc' Anthologie
eine Entdeckung im unübersichtlichen literarischen Meer, schon
um das eigene Land besser kennen zu lernen.
Kito Lorenc (Hrsg.)
Das Meer Die Insel Das Schiff.
Sorbische Dichtung von den
Anfängen
bis zur Gegenwart.
Ins Deutsche übertragen von Kito Lorenc,
Albert Wawrick, Róža Domašcyna und
anderen.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2004; 328
S.,
24,90 Euro
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