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Johannes L. Kuppe
Umgang mit brisanten Akten
Die Stasi - Aufarbeitung eines
"Erbes"
Es ist kein Ende abzusehen. Die Geschichte des
Staatssicherheitsdienstes der DDR wird uns noch lange
beschäftigen. Seine Akten, soweit sie erhalten geblieben und
nicht von interessierter Seite beiseite geschafft oder vernichtet
wurden, verwaltet in Berlin der "Bundesbeauftragte für die
Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR",
gemeinhin bekannt als "Gauck-Behörde". Jetzt wird zum ersten
Mal systematisch und zusammenhängend über die Entstehung,
den Auf- und Ausbau, die Arbeitsweise, über Aufgaben, Probleme
und Arbeitsergebnisse dieser Behörde berichtet und
(Zwischen-)Bilanz gezogen.
Eine staatliche Behörde mit immerhin
2.600 Beschäftigten muss aufklären, welchen Nutzen sie
für die Gesellschaft erwirtschaftet, zumal wenn sie nicht im
Mittelpunkt öffentlichen Interesses steht. Die 17 Autoren,
überwiegend Mitarbeiter der Behörde, haben diese Aufgabe
mehr als zufriedenstellend erledigt. Damit wird zugleich
dokumentiert, in welch starkem Maß sich der deutsche Staat bei
der Aufarbeitung dieses Teils der jüngsten deutschen
Geschichte engagiert, verglichen etwa mit einigen unserer
osteuropäischen Nachbarn, wo die Akten der früheren
kommunistischen Repressionsapparate faktisch unter Verschluss
gehalten werden.
In drei der vier Hauptkapitel geht es um die
politische Geschichte der Behörde einschließlich seiner
noch von der freien DDR-Volkskammer verabschiedeten
Vorläuferregelungen, um aktuelle Probleme im Spannungsfeld von
Stasiakten und Datenschutz und um den Beitrag, den diese Akten zur
Aufarbeitung der DDR-Geschichte leisten. Im letzten Kapitel ziehen
zwei Autoren eine vorläufige Bilanz im Hinblick auf andauernde
Personenüberprüfungen und die "juristische Aufarbeitung
der SED-Herrschaft".
Die Akteneinsicht war ein wichtiges Merkmal
der von Bürgern der freien DDR 1990 erkämpften Freiheit,
die zuerst und vor allem den Opfern der Stasi geschuldet sei
(Marianne Birthler). Wer heute Schlussstrich-Forderungen erhebt,
muss sich darüber klar sein, dass eine Schließung oder
auch nur wesentliche Beeinträchtigung der Arbeit der
Behörde eine "Demokratieinitiative der Friedlichen Revolution"
(Wolfgang Ullmann) in der DDR beseitigen will.
Im zweiten Kapitel kann man, nicht ohne
Erschütterung, noch einmal nachlesen, welche Folgen zwei
Urteile (des Berliner Verwaltungsgerichtes 2001 und des
Bundesverwaltungsgerichtes 2002) für die zeitgeschichtliche
Forschung und damit die Aufarbeitungsbemühungen der ganzen
Gesellschaft hatten und noch haben. Beide Gerichte hatten auf
Antrag des Alt-Bundeskanzlers Kohl entschieden, den angeblichen
Schutz der Privatsphäre des Antragstellers höher als das
Recht auf Akteneinsicht zum Beispiel durch Historiker zu bewerten
und die Öffnung "seiner" Akten von der vorherigen Erlaubnis
Kohls abhängig zu machen. Kohl genießt damit die gleichen
Rechte wie die tatsächlichen Opfer der Stasi. Auch eine vom
Deutschen Bundestag darauf hin vorgenommene (vorsichtige)
Novellierung des Gesetzes hat diesen richterlich provozierten
Missstand bisher nicht vollständig beseitigen können.
Johannes Beleites plädiert daher - und mit vielen anderen
guten Gründen - überzeugend für eine umfassende
Novellierung des Staatssicherheits-Unterlagen- gesetzes.
Im dritten Kapitel geht es um sehr
Persönliches (bei Lutz Rathenow) und dann wieder um sehr
Grundsätzliches, zum Beispiel um den unerhörten
bürokratischen Aufwand der Stasi-Repressionsfallen, um die
Westarbeit der Stasi und um den Zusammenhang von Zeitgeschichte und
Erforschung der Stasi-Hydra (Ehrhart Neubert, Helmut
Müller-Enbergs und Joachim Gieseke). Bei Neubert etwa begreift
man, dass die DDR neben vielen anderen Toden wohl auch den
Informationstod gestorben ist. Die Stasi wusste schließlich
alles - und letzten Endes nichts.
In dieses Kapitel gehört auch der
verdienstvolle Beitrag von Siegfried Suckut, dem Leiter der mit 72
Mitarbeitern kleinsten Abteilung "Bildung und Forschung". Sie soll,
vom Gesetzgeber ausdrücklich gefordert, Forschung über
die Stasi nicht nur fördern und organisieren, sondern selbst
betreiben. Der Autor entfaltet mit allen befürwortenden und
allen Gegenargumenten die ganze Diskussion um die Frage, ob der
Staat gerade in diesem Fall selbst Forschung betreiben darf/soll
oder dies universitären Institutionen und Einrichtungen
überlassen muss/soll. Für den Rezensenten ist ganz klar:
Wenn der Staat vollständige Unabhängigkeit gewährt,
wenn ferner die Universitäten sie nicht selbst betreiben
wollen oder können, dann muss sogar zeitgeschichtliche
DDR-Forschung unter seinem Dach stattfinden. Hinzu kommt noch, dass
an zwei Dritteln (!) aller deutschen Hochschulen das Thema DDR, mit
weiter abnehmender Tendenz, überhaupt nicht mehr bearbeitet
wird. Wenn man dann noch in Rechnung stellt, dass von dem
verbleibenden Drittel die Hälfte veröffentlichter
Forschungsergebnisse als unerheblich oder qualitativ unbefriedigend
eingestuft werden muss, dann erscheint Staatsforschung über
die Stasi nicht nur unbedenklich, sondern sogar zwingend geboten.
Sie vergrößert den gesellschaftlichen Kenntnisstand
über eine untergegangene Diktatur und ist damit
unverzichtbar.
Dass die Abteilung Bildung und Forschung der
Gauck-Behörde tatsächlich über eine beneidenswerte
Unabhängigkeit verfügt, zeigt ein Blick auf ihre
beeindruckende Publikationsliste. Außerdem profitiert sie von
vergleichsweise großer personaler Kontinuität, welche
auch die längerfristige Bearbeitung von Forschungsprojekten
erlaubt. All das hat keine Universität mit ihren begrenzten
eigenen und eingeworbenen Forschungsmitteln zu bieten. Etwas anders
verhält es sich mit dem Vorwurf des privilegierten
Quellenzugangs, der Nachfrager von außen zweifellos
benachteiligt. Hier sind wohl tatsächlich noch Verbesserungen
denkbar.
Wirklich ärgerlich an diesem Buch ist
nur das von Heinrich Oberreuter beigesteuerte Vorwort. Womit
eigentlich hat sich der bayerische Politologe als DDR-Kenner
ausgewiesen? Da finden sich dann Urteile, die in ihrer
Allgemeinheit so sehr von Unkenntnis getrübt sind, dass sie
sogar auf viele DDR-Bürger und solche, die es mal waren,
beleidigend wirken. Die DDR sei eine "von Lüge,
Selbstverleugnung, Misstrauen und schizophrenem Denken
geprägte Gesellschaft" gewesen!" "Geprägt" wohlgemerkt!
Ja, das alles hat es auch gegeben. Aber prägend war es nicht.
So werden auch nachträglich noch die lebensweltlichen
Erfahrungen und Verhaltensweisen der DDR-Bürger in schlimmer
Weise abgewertet und heruntergewürdigt.
Den Vogel schießt er mit der
Wiederholung der Litanei von der "illusionären"
Entspannungspolitik ab, die zu Wirklichkeitsverweigerung und
Missachtung von Tatsachen geführt habe. Das ist in seiner
schrecklichen Verallgemeinerung wieder so falsch, dass noch nicht
einmal - wie Karl Kraus gesagt hat - das Gegenteil wahr ist. Die
zeitgeschichtliche Forschung sieht das heute um vieles
differenzierter. Ein schönes, informatives Buch mit einem
ärgerlichen Vorwort. Aber das kann man ja
überlesen.
Wer sich solchermaßen mit den faktischen
und normativen Grundlagen des Themas vertraut gemacht hat, sollte
anschließend sein Bild vom Moloch Stasi durch ein ansehnliches
Stück literarischer Vergangenheitsbewältigung
ergänzen. Da hat eine junge australische Journalistin dreimal
die DDR besucht, einmal vor und zweimal nach der Wende. Danach hat
sie ein wunderbares, schon vielfach prämiertes Buch mit einem
Dutzend lose aneinandergereihter Geschichten, über einen "aus
der Zeit gefallenen Ort" geschrieben. Es handelt sich um jenen
emotionslos scheinenden kühlen Blick von außen, der
jedoch mehr emotionalisiert als manche seelenlose
Opferstatistik.
Da geht es gar nicht mehr direkt um den
Apparat Stasi, sondern um das Leben der Opfer, Täter,
Mitläufer, Ignoranten, Gleichgültigen und Angepassten -
unter und mit der Stasi. Man lese etwa über die Begegnung mit
dem Rentner Karl-Eduard von Schnitzler, über Anna Funders
Besuch im Stasi-Kerker Hohenschönhausen oder ihre wunderbar
einfühlsam beschriebene Begegnung mit Miriam und Charlie nach
und man wird viel von einer untergegangenen und gleichwohl
nachwirkenden, manchmal sehr deutschen Lebenswelt spüren. Die
Autorin schreibt völlig unprätentiös und trifft fast
immer ins Schwarze. Höchst empfehlenswert.
Siegfried Suckut/Jürgen Weber
(Hrsg.)
Stasi-Akten zwischen Politik und
Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz.
Olzog Verlag, München 2003; 338 S.,
19,80 Euro
Anna Funder
Stasiland.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg
2004;
342 S., 24,90 Euro
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