Jörg Jacob
Ein Hobby als politische Teilhabe
Deutsche Geschichte in
Lebensgeschichten
Zwei Männer sammeln Daten, zunächst Wetterdaten,
später historische. Damit pflegen die beiden pensionierten
Meteorologen ein ausgefallenes Hobby, das bald mehr als ein Hobby
zu werden droht. Zum Missvergnügen ihrer lebenslustigeren
Freundin Ida recherchieren der Ich-Erzähler und sein Freund
Awa Lebensläufe von Menschen, die zu einem Anderen geworden
sind, weil sich die Verhältnisse, in denen sie leben,
änderten.
Diese Lebensgeschichten - die Meteorologen sprechen nur von
"Fällen" - sind auf vielfältige und unterschiedliche
Weise mit den großen Brüchen deutscher Geschichte des 20.
Jahrhunderts verknüpft. Vom Kaiserreich und einem
geschäftstüchtigen Forschungsreisenden bis zur
schillernden Figur eines bekannten Politikers der
bundesrepublikanischen Gegenwart wird von Menschen berichtet, die
mit dem Wechsel bestehender politischer Verhältnisse
unerhört geschickt und anpassungsfähig ihre
Identität wechseln.
Dabei lernt der Leser ebenso einen Konstantin von Tischendorf,
den Entdecker des Cotex Sonaiticus kennen wie die wahre Geschichte
des Stefan Jerzy Zweig, jenes Jungen, der als Buchenwald-Kind in
Bruno Apitz' Roman "Nackt unter Wölfen" weltweit bekannt
geworden war. An zentraler Stelle steht die gut recherchierte
Laufbahn eines deutschen Germanisten, der vor und nach 1945
Karriere zu machen verstand.
Bei der Etablierung des Nazi-Ideologen in der jungen
Bundesrepublik wirkte übrigens auch jener SS-Mann Rössner
mit, der später selbst auf noch absurdere Weise als Lektor
Hannah Ahrendts in Erscheinung treten sollte.
Schädlichs Sprache fließt angenehm entspannt; sie ist
eine klare und einfache Prosa. Das Ende des Romans jedoch erscheint
unbefriedigend. Der Erzähler bricht - überdrüssig
der ewigen Recherche und resigniert von den sich wiederholenden
Geschichten - zu einer Reise ins ferne Australien auf. Dort trifft
er auf Menschen, die ihn in seiner Weltflucht zu bestätigen
scheinen. Denn die Geschichten wiederholen sich auch in dem fernen
Kontinent.
Geschichte wiederholt sich, weil der Mensch sich nicht wirklich
ändert. Herr Katz sagt: "Deshalb lebe ich in Melbourne." Herr
Katz, ein Überlebender des Holocaust, kann so etwas sagen und
einfach in Melbourne leben. Unserem Meteorologen dürfte dies
auf Dauer jedoch schwer fallen. Denn er spürt - und dies teilt
er unzweifelhaft mit seinem Autor - Verantwortlichkeit
gegenüber der Geschichte, eine Verpflichtung, sich mit ihr
auseinander zu setzen.
Der Protagonist von "Anders" hat offenbar resigniert, nicht aber
der Autor Hans Joachim Schädlich. Sein Buch teilt auf
spannende und gut lesbare Weise eine beeindruckende Vielfalt an
zeitgeschichtlichen Fakten mit. Wenn politisches Engagement in
unserer Gesellschaft zunehmend zu den Ausnahmeerscheinungen
gehört, dann ist dieses Buch als Anregung zur Diskussion
über Sinn und Notwendigkeit eines solchen Engagements sehr zu
empfehlen. Jörg Jacob
Hans Joachim Schädlich
Anders. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2003; 219 S., 19,90 Euro
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