|
|
Oliver Heilwagen
Lernen, wie der Westen tickt
Jugend beim Petersburger Dialog
Russen sind für mich nicht mehr fremde Leute, sondern Anna,
Sergej und Alina. Durch die Jugendlichen, die ich kennen gelernt
habe, hat für mich auch Russland eine konkrete Bedeutung
bekommen", sagt Maria Graul. Die 21-Jährige, die
Kulturwissenschaften in Frankfurt/Oder studiert, hat bereits
reichlich Osteuropa-Erfahrung. Sie besuchte ein Jahr lang die
Universität in Warschau. Danach gab sie gemeinsam mit
Kommilitonen aus Tschechien und Slowenien eine Zeitung für
Studenten heraus, die in fünf Ländern zugleich erschien.
Aber das Riesenreich zwischen Ostsee und Pazifik sagte ihr bislang
wenig.
Von einem ähnlichen Aha-Erlebnis erzählt die Russin
Galina Kondratjewa, die zurzeit ein Praktikum bei der
Nachrichtenagentur dpa absolviert: "Meine Vorstellung von Russland
hat sich hier durch Gespräche mit deutschen Kollegen sehr
verändert. Ich wurde als Kind noch im Geist der
kommunistischen Ideologie erzogen; nun sehe ich Russland wesentlich
kritischer." Diese Ernüchterung schreckt die 23-jährige
Germanistin aus dem ostsibirischen Chabarowsk nicht ab.
Demnächst wird sie als Tutorin der Robert-Bosch-Stiftung in
Köln arbeiten.
Jugend stand im Mittelpunkt
Marias und Galinas Einsichten kommen auch ihren Altersgenossen
zugute: Beide nahmen an den dritten "Deutsch-russischen
Jugendtagen" vom 8. bis 10. September in Hamburg teil. Auf ihnen
sammelten etwa 50 Jugendliche Ideen, wie sich der Schüler- und
Studentenaustausch zwischen beiden Ländern fördern
ließe. Sozusagen als Expertengremium der Betroffenen: Denn der
gleichzeitig in der Hansestadt veranstaltete "Petersburger Dialog"
stand in diesem Jahr ganz im Zeichen der Jugend. Seit 2000
versammelt die Konferenz alljährlich rund 150 hochrangige
Vertreter der deutschen und russischen Zivilgesellschaft zu einem
offenen Gesprächsforum. Diesmal wollte es seinen bislang
größten Erfolg feiern: Den Abschluss eines
Regierungsabkommens über jugendpolitische Zusammenarbeit, das
der "Dialog" vor zwei Jahren angeregt hatte. Seine Unterzeichnung
vereitelte indes das tragische Ende des Geiseldramas in Beslan.
Russlands Staatspräsident Wladimir Putin sagte seinen
angekündigten Besuch ebenso wie Bundeskanzler Gerhard
Schröder kurzfristig ab. Doch der Inhalt der Vereinbarung
bleibt davon unberührt; sie soll nun im November besiegelt
werden. Dennoch waren wichtige Vertreter beider Länder
anwesend, wie der russische Kinderarzt und Vermittler im
Geiseldrama von Beslan, Leonid Roschal, Russlands ehemaliger
Präsident Michail Gorbatschow und auf deutscher Seite unter
anderem der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU Fraktion,
Wolfgang Schäuble.
Nach dem Vorbild des 1963 gegründeten
deutsch-französischen Jugendwerks und der seit einem Jahrzehnt
bestehenden deutsch-polnischen Einrichtung werden zwei Büros
in Deutschland und Russland eröffnet, die ab 2005 für den
beidseitigen Jugendaustausch werben und ihn koordinieren sollen.
Auf deutscher Seite handelt es sich um eine "public private
partnership": Beteiligt sind nicht nur die zuständigen
Ministerien, sondern auch der "Dialog", das ihn organisierende
Deutsch-russische Forum, der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft
und die Bosch-Stiftung. Sie sichert zudem mit einem einstelligen
Millionenbetrag die Anschubfinanzierung des deutschen Büros,
damit es seine Tätigkeit bald aufnehmen kann.
Das ist auch nötig, da die bilateralen Jugendkontakte in
jüngster Zeit zu einer ziemlich einseitigen Angelegenheit
geworden sind. Während auf russischer Seite der Andrang auf
Stipendien und Praktika in Deutschland ungebrochen ist, hat das
Interesse deutscher Heranwachsender an Russland stark nachgelassen.
1992 lernten hierzulande noch mehr als 560.000 Schüler
Russisch; bis zum Schuljahr 2002/03 sank ihre Zahl um drei Viertel
auf nur noch 145.000. Mangels Nachfrage werden
Slawistik-Fakultäten entweder wie an der Universität
Münster geschlossen oder wie in Baden-Württemberg zu
einem einzigen Studiengang im gesamten Bundesland zusammengelegt.
Derweil stagniert die Zahl der deutschen Schüler, die ein
Austauschjahr in Russland verbringen, bei rund 4.000 - trotz
zahlreicher Vereine und anderer Initiativen, die einen derartigen
Aufenthalt organisieren.
Russland ist wichtiger Handelspartner
Zum großen Bedauern der deutschen Wirtschaft. Die
Bundesrepublik ist mittlerweile der wichtigste westliche
Handelspartner Russlands: Allein im ersten Halbjahr 2004 stiegen
die deutschen Exporte um fast 25 Prozent. Doch dringend
benötigte Fachkräfte mit Russischkenntnissen werden
allmählich rar; nach der Euphorie der Ära Gorbatschow
wächst wieder die Entfremdung zwischen beiden Ländern.
Dem könnte ein lebhafter Jugendaustausch langfristig abhelfen.
Um ihn in Gang zu bringen, bedarf es aber nicht nur der
institutionellen Voraussetzungen, die nun geschaffen werden,
sondern auch der richtigen Rahmenbedingungen.
Darauf zielten die meisten Verbesserungsvorschläge der
Teilnehmer an den "Jugendtagen" ab. Insbesondere die russischen
Einreiseformalitäten sind so schikanös bürokratisch
wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Ohne offizielle Einladung stellt
das Konsulat kein Visum aus; überdies muss sich jeder
Ausländer binnen drei Tagen bei der Polizei registrieren
lassen. Die Jugendlichen forderten daher, die Ende 2003 zwischen
Moskau und Berlin vereinbarten Erleichterungen für
Wissenschaftler und Sportler auch auf ihre Altersgruppe
auszudehnen. Außerdem sollte der Kreml ausländischen
gemeinnützigen Organisationen, die in Russland aktiv sind,
ihre Arbeit erleichtern: Seit 2002 unterliegen sie wie kommerzielle
Firmen der Steuerpflicht. Es ist also noch viel guter Wille
nötig, um die deutsch-russische Völkerfreundschaft weiter
voranzubringen - nicht nur unter deutschen Jugendlichen, sondern
auch bei den russischen Machthabern. Oliver Heilwagen
Zurück zur
Übersicht
|