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Helmut Merschmann
Mit Wehmut zurück auf Los
Retro spielt mit der Vergangheit: Luigi Colani
glaubt an die Zukunft
Als die 70er-Jahre noch die 70er-Jahre waren, da
war die Welt noch in Ordnung. Aufbruch, Veränderung und der
unbedingte Wille, etwas Neues zu schaffen, prägten die
Stimmung. Unsere Gegenwart sehnt sich zurück in diese Zeit,
die aus heutiger Sicht so überschaubar erscheint, optimistisch
und der Zukunft zugewandt. Und irgendwie auch gemütlich. Es
herrscht eine Sehnsucht nach dem flauschigen Flokati-Teppich, den
Bogenlampen und der - auf einmal als schön geltenden -
Farbkombination orange-braun. In jungen deutschen Wohnzimmern
findet sich diese Farbenwelt wieder, deren Bewohner in den
70er-Jahren gerade mal eben auf der Welt waren, oder auch noch
nicht einmal das. Die Retrotrends finden sich in ihrem Leben ein,
wie selbst gemacht. Das Original hingegen lässt sich in der
Karlsruher Ausstellung "Luigi Colani - Das Gesamtwerk"
bewundern.
Woher stammen Retrotrends? Erst waren die
Sixties in, dann galten die Seventies als chic, worauf die 80er
folgten. Immer schneller dreht sich die Retro-Rotation und arbeitet
sich an vergangenen Stilepochen ab. Zunächst wurden Kleidung,
Musik und Mobiliar recycelt und neu aufgelegt. Dann kamen die
Fernsehshows, in denen sich Prominente der ach so guten, alten Zeit
erinnerten. Auch in der Politik spielt Retro neuerdings eine Rolle.
Viele fühlen sich beim Anblick einiger Alt-Politiker auf den
aktuellen Wahlkampfbühnen und bei den Montagsdemos gegen Hartz
IV ein gutes Jahrzehnt zurückversetzt. Die gegenwärtigen
"Nuller Jahre", kaum dass sie begonnen haben, setzen offenbar zur
großen Rolle rückwärts an und scheinen sich als
Retrotrend selbst nachzuahmen. Doch was dann? Aller Voraussicht
nach wird die Zeitgeschichte zum Stillstand kommen und wie ein
Kartenhaus in sich zusammenfallen. Oder etwa nicht?
Längst macht die Wirtschaft mit dem
Trend in die Vergangenheit ein gutes Geschäft und holt alte
Produkte aus der Versenkung hervor. Fanta, Tri Top, Brauner
Bär, Creme 21, Nostalgie-Uhren und Füllfederhalter mit
Kolbenmechanik - das aktuelle Warensortiment schwärmt von den
alten Zeiten. Trendsetter stellen beim Handy den Klingelton "Old
Phone" ein, der an die Phase erinnert, als Telefone noch Kabel und
Wählscheiben hatten und vor sich hin schnarrten. Diese
nostalgische Sehnsucht nach der Vergangenheit korrespondiert
offenkundig mit dem rasanten technologischen Fortschritt, ist eine
Reaktion darauf. Je mehr Digitalisierung und Vernetzung, desto
größer der Wunsch nach Innehalten und Zurückblicken.
In einer globalisierten Welt sind die alten, vertrauten Produkte
zum wertvollen Bestandteil der eigenen Identität geworden.
Deshalb sind Retro- und "Ostalgie"-Shows, in denen sich wehmutsvoll
erinnert wird, im Fernsehen so erfolgreich. Ausgeblendet bleiben
dabei sowohl das politische Umfeld als auch das gesellschaftliche
Klima, in denen sich damals alles abspielte. Retro ist immer auch
Weltflucht und Zukunftsangst zugleich - den Wunsch, die Welt zu
belassen, wie sie einmal war, beziehungsweise wie man sich an sie
erinnert.
Einer, der die 60er- und 70er-Jahre nicht nur
durchlebte, sondern sie maßgeblich mitgestaltet hat, ist Luigi
Colani. Dem heute 75-jährigen deutschen Stardesigner ist in
der Karlsruher Nancyhalle eine Ausstellung gewidmet, die sein
umfangreiches Gesamtwerk umfasst. Bekannt geworden für eine
unverwechselbare Handschrift, die dem Organischen huldigt und den
rechten Winkel scheut, hat Colani eine ausgesprochene Abneigung
gegen Spitzen und Kanten entwickelt. Seine Ästhetik ist im
Windkanal entstanden und um die Ecke gedacht - Aerodynamik und
Ergonomie lautet ihre Losung, fließende Linien und
schmeichelnde Rundungen sind ihr Programm. Colanis "biomorphe"
Formen stammen aus einer Zeit, als das Design noch eine Utopie
hatte. In den 60er- und 70er-Jahren pros-perierte die deutsche
Wirtschaft, und der Zukunft waren keine Grenzen gesetzt. Die
Massenkultur verlangte nach einer Formensprache, die zugleich
Modernität ausstrahlte und Einzigartigkeit.
Luigi Colani kam dem auf überaus
extravagante Weise nach. Seine Werke sind Ausdruck des
gesellschaftlichen Fortschrittswillens, der sich damals bevorzugt
in Kunststoff materialisierte, auch wenn stilistisch die Natur
nachempfunden wurde. "Organic Design", nennt Colani seinen Ansatz
und ist überzeugt, "dass die Natur bereits alle
Design-Aufgaben vorbildlich gelöst hat." Gerne dürfen
seine Objekte aber auch ein bisschen Mondfahrt und eine gute
Portion Science-Fiction ausstrahlen. Wie etwa die knallrote
Poggenpohl-"Kugelküche" von 1970, die wie ein Satellit
außen an ein ellipsenförmiges Wohnmodul anzudocken war
und im Innern einer Raumstation gleicht. Erkennbar hatte Colani
sich dabei von Raumfahrt und futuristischen Filmen inspirieren
lassen.
Von erotischen Sushi-Schalen und einem mehr
als sinnlichen Teekannen-Set über Brillen, Brieföffner
und Biergläser bis zu Stühlen, fahrbaren Mobilen und
einem sehr eigenwilligen Konzertflügel für die Firma
Schimmel reicht die Palette der etwa 1.000 Exponate in der
Karlsruher Ausstellung. Selbstbewusst gruppiert Colani sein Werk
neben dem von Verner Panton sowie Ray und Charles Eames ein,
weiteren Ikonen des 60er- und 70er-Jahre-Designs. Dass er neben
solchen internationalen Größen bestehen kann, dafür
hatte Colani immer selbst gesorgt: Unvergessen sind seine vielen
Talkshow-Auftritte, bei denen der stets in Weiß gewandete, mit
schulterlangem Haar und einem Zwirbelbart versehene Designer sich
als Künstlergenie in Szene setzte. Abgehoben war Colani aber
nie, im Gegenteil: Er war sich für nichts zu schade. Selbst
ein spaciges Bügelbrett und einen Eimer "Colani weiß -
Die Innenfarbe" ziert sein Konterfei und Schriftzug.
Viele von Colanis Ideen sind heute Massengut
geworden: Die weichen Formen der Canon-Kleinbildkamera T90 sind
wohl bekannt. Vom Jugendstil inspirierte Sektgläser mit
rosé-farbigem Stiel - Colani hat sie neu aufgelegt. Auch die
leichte Drehung des schicken Flaschenkörpers von
Gaensefurther-Mineralwasser geht auf sein Konto. Für Firmen
wie Villeroy & Boch, Boeing, VW, BMW und Rockwell hat der
Unermüdliche ebenso gearbeitet wie für DaimlerChrysler in
Wörth, wo er noch heute als Produktdesigner tätig
ist.
Colanis aktuelles Schaffen, aus dem Jahr
2003, umfasst eine Teppichkollektion für einen Karlsruher
Hersteller. An stabilen Metallarmen hängen die
großformatigen Stücke zum Umblättern wie im
Poster-Shop. Man kann sie in der Ausstellung gleich bestellen. In
den geschwungenen Linien und dezenten Farbläufen offenbart
sich die modische Aktualität von Colanis Werk. Mühelos
knüpft der Bodenbelag an die gegenwärtige Retrowelle der
70er-Jahre an, als deren Inkarnation das Design Colanis heute
erscheinen muss. In dem Maße jedoch, wie dieses Design damals
avantgardistisch war und den gesellschaftlichen Fortschrittswillen
ausdrückte, ist es heute Zeichen für den
gesellschaftlichen Stillstand und die Mutlosigkeit, die sich bis in
die Ästhetik hinein breit gemacht hat. Dafür kann Luigi
Colani freilich nichts - es ist ein Zeichen der Zeit.
"Colani - Das Gesamtwerk" - Ausstellung in
der
Nancyhalle am Kongresszentrum,
Karlsruhe.
Bis 31. Dezember 2004. Im Internet:
www.colani.de
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