Hans Heinrich Nolte
Die meisten Menschen sahen zu
Antisemitismus in Deutschland
Warum war Deutschland der Ort der Tragödie, obwohl doch
zumindest Abneigung und vielfach Feindseligkeit gegenüber
Juden in ganz Europa verbreitet waren?" Der französische
Historiker Burrin untersucht diese Frage - nach einer Skizze
wichtiger Positionen der Literatur - in drei Schritten: Im ersten
geht er in der Geschichte des Antisemitismus in ganz Europa bis ins
Mittelalter zurück, im zweiten stellt er die Dynamik von
Judenfeindlichkeit und NS-Identität dar, die nach 1933
entwickelt wurde, und im letzten konzentriert er sich auf
Apokalypse und Ressentiment der Kriegszeit.
Im ersten Abschnitt sind die Vergleiche mit dem
französischen Antisemitismus besonders erhellend, in denen
Burrin als Besonderheiten der deutschen Seite das ethnische und das
religiöse Element sowie die Rolle der autoritären Kultur
herausarbeitet. Im Abschnitt über die Konstruktion der
NS-Identität betont er die Rolle der Ideologie und den
für Hitler apokalyptischen Charakter des Kampfes gegen die
Juden.
Krieg und Genozid
Die Mehrheit der Deutschen ging seiner Meinung nach nicht zum
radikalen Antisemitismus über; die Schaffung der
"Apartheidsgesellschaft" nach 1933 stieß aber auf keinen
Widerstand. Auf dem Weg zum Genozid war der Krieg ein
unumgänglicher Schritt: Hitler hatte 1939 die "Vernichtung der
jüdischen Rasse in Europa" für den Fall des Weltkriegs
prophezeit, und der Massenmord machte nun darüber hinaus
deutlich, "dass dieses Regime die Brücken hinter sich abbrach
und bis zum Ende kämpfen würde".
Fragen zum Thema
Drei Fragen an den Autor seien notiert. Er stellt heraus, dass
Deutschland "unter einer Identitätskrise litt" (S. 56). Aber
setzt nicht, wie Mark Levene jüngst in der in der "Zeitschrift
für Weltgeschichte" fragte, diese passive Formulierung den
aktiven Anteil der Eliten an dieser Identitäts-Krise zu
niedrig an? Dann: sieht Burrin die Differenz zwischen Rasse und
Volk bei Hitler klar genug (S.62) ? Der hatte ja Gobineau
wahrgenommen und kannte die Furcht, dass im deutschen Volk eher
wenig Menschen "nordischer Rasse" vertreten seien.
Und schließlich: hat die Polykratie-These nicht doch mehr
für sich? Burrin schreibt korrekt (S. 94), Hitler habe Ende
1941 beschlossen, die sowjetischen Kriegsgefangenen als
Zwangsarbeiter einzusetzen; deren Hungertod wurde aber weithin erst
nach diesem Datum (es war der 14.Oktober) herbeigeführt.
Burrin stellt die "Dialektik der den Juden zugeschriebenen
negativen Bilder und das positive Selbstbild der
Mehrheitsgesellschaft" in das Zentrum seiner Analyse. Dieser Ansatz
zur Erklärung des deutschen Genozids wird knapp und gut lesbar
durchargumentiert - ein wichtiger Beitrag zur Debatte.
Philippe Burrin
Warum die Deutschen?
Antisemitismus, Nationalsozialismus,
Genozid.
Aus dem Französischen von Michael Bischoff
Propyläen Verlag, Berlin 2004; 143 S., 16,- Euro
Professor Hans-Heinrich Nolte ist Emeritus für neuere
Geschichte an der Universität Hannover und Mitherausgeber der
"Zeitschrift für Weltgeschichte".
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