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Claudia Heine
Erfolgreicher Traditionsbruch
Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2004
für Péter Esterházy
Seit 1950 vergibt der Börsenverein des
Deutschen Buchhandels den mit 15.000 Euro dotierten Friedenspreis.
Er gilt als eine der bedeutendsten deutschen Auszeichnungen und
ehrt jährlich eine Persönlichkeit aus dem In- oder
Ausland, in deren künstlerischem oder wissenschaftlichem Werk
der Friedensgedanke eine besondere Rolle spielt. Am 10. Oktober,
anlässlich der Buchmesse, wird Péter Esterházy den
Preis in der Frankfurter Paulskirche entgegen nehmen.
In der Begründung der Jury heißt
es, sie ehre einen Schriftsteller, der "als weithin vernehmbare
Stimme der Nachgeborenen die Zerstörung des Menschen durch
Terror und Gewalt und seine Wiederauf-erstehung in Trauer und
Ironie gestaltet". In "Harmonia Caelestis" und der
dazugehörigen "Verbesserten Ausgabe" habe der 1950 in Budapest
geborene Esterházy "die Last der Wahrheit auf sich genommen"
und die "Verstrickungen" der Menschen in
"gedächtnisfähige Bilder" verwandelt.
Mit seinem literarischen Debüt, der
Erzählung "Francsikó und Pinta" (1976), legte Péter
Esterházy den Grundstein für einen Ruhm, der im Jahr 2000
plötzlich zu einer schweren Hypothek werden sollte. Gerade
hatte er sein Hauptwerk "Harmonia Caelestis" abgeschlossen, eine
900 Seiten starke Familienchronik und Denkmal für seinen (kurz
vorher gestorbenen) Vater, als er entdeckte, dass dieser für
den ungarischen Geheimdienst gespitzelt hat. Und das mehr als 20
Jahre mit wachsendem Eifer. Mátyás Esterházy,
Nachfahre eines der ältesten ungarischen Adelsgeschlechter,
nach Enteignung und Zwangsumsiedelung 1948 Parkettleger und
Übersetzer, ein Spitzel? Wie reagiert darauf ein Autor, der
seit Jahrzehnten als der Vertreter der ungarischen postmodernen
Literatur gefeiert wird, als Sprachkünstler, der es versteht,
alles Erzählte mit Ironie zu relativieren, der Realität
und Fiktion in einer Selbstverständlichkeit mischt, die vor
nichts halt macht: vor der Zeitgeschichte ebenso wenig wie vor der
Familiengeschichte, weder vor den Texten anderer Autoren, noch vor
historischen Dokumenten?
Vor der politischen Wende 1989/90 konnte er
sich auf diese Weise dem Diktat des sozialistischen Realismus in
der Literatur entziehen, anstatt sich ihm unterzuordnen. Und
danach? Auf einmal holt ihn dieser Realismus in den Akten seines
Vaters wieder ein und entwaffnet ihn, sozusagen nachträglich.
Der Schutzpanzer der Ironie funktioniert nicht mehr. Die
Realität, um die er sich nie sonderlich bemühte, wird ihm
aufgezwungen: "Ich bin ich. Dass es jetzt Leute gibt, die Argwohn
schöpfen, verstehe ich", schreibt er am Anfang der
"Verbesserten Ausgabe", die eine Sammlung von Tagebucheintragungen
aus der Zeit seiner unfreiwilligen Forschungsreise im Jahr 2000
ist. Es bleibt ihm dennoch nichts anderes übrig, als in die
Offensive zu gehen und sich der bisher ungekannten Seite seines
geliebten Vaters zu stellen. Was sind die Aussagen über ihn in
"Harmonia Caelestis" vor diesem Hintergrund noch wert? "Ist mein
Vater bis ins Mark verdorben?" Diese Frage des verunsicherten
Sohnes durchzieht dieses Buch, das in Momenten interessant wird, in
denen es Passagen der "Harmonia" den Zitaten aus den
Spitzelberichten gegenüberstellt. Das Ausmaß der Spionage
ist immens, die Erschütterung und Verzweiflung des Sohnes
ebenfalls. Péter Esterházy begegnen hier sämtliche
Menschen wieder, mit denen er je in Berührung gekommen war.
Die Familie wird nicht verschont, auch er selbst nicht. Kleinteilig
berichtet der Vater über Gewohnheiten, politische
Einstellungen, familiäre Situationen seiner Objekte. Selbst
freundschaftliche Kontakte werden eigens zu dem Zweck des
Informationsflusses geknüpft. Letztlich armselige
Dokumente.
Die eigene Wiederauferstehung, die
Esterházy mit dem Buch versucht, gelingt jedoch nur zum Teil,
nämlich auf moralischer Ebene. Nach dem großen Erfolg von
"Harmonia Caelestis", monatelang in den ungarischen
Bestsellerlisten, war es ein notwendiges gesellschaftliches Signal:
Gerade öffentlich errichtet, bekam das Vater-Denkmal tiefe
Risse, das musste öffentlich erklärt werden. Zumal von
jemandem, der auch als politischer Essayist eine wichtige Rolle in
der ungarischen Öffentlichkeit spielt, und der die politischen
Prozesse stets kritisch begleitet. Literarisch jedoch, seiner
üblichen Stilmittel beraubt, beeindruckt die "Verbesserte
Ausgabe" weniger, bleibt eine Sammlung eigener Befindlichkeiten,
die aber erschütternd in ihrer Offenheit ist.
Erschütternd auch, weil sie zeigt, dass es keine richtige
Lösung für den Sohn gibt, mit dem Vertrauensverlust, den
Zweifeln und der Fragiliät des Vaters umzugehen. Und so
resümiert er: "Meinem Vater können wir - wir Menschen,
die er verraten und die er nicht verraten hat - nicht verzeihen, da
er sich vor uns nicht zu seiner Tat bekannt und sie nicht bereut
hat; er hat nicht bereut, dass er von den dunkleren Hälften
seiner Seele besiegt wurde. So kann man ihn bemitleiden, ihn
hassen, auch missachten. Ausspucken nach ihm oder auf ihn pfeifen:
das ist das Schicksal meines Vaters."
Péter Esterházy sagte einmal, die
Familie sei eine "Möglichkeit, Sätze zu bekommen. Und ich
habe viele Sätze bekommen." Nicht nur sein Hauptwerk "Harmonia
Caelestis" zeigt es: seine Literatur ist ohne den eigenen
familiären Hintergrund nicht denkbar und "alle Wege dorthin
führten über ihn", den Vater. Eine Annäherung an ihn
gelang jedoch nur bruchstückhaft, er blieb dem Sohn fremd:
"Ich (tag)träumte, ich würde mich beim Herrgott nach
meinem Vater erkundigen. Befragen, ausquetschen, nachboren. Wie er
denn so sei. Ich hätte gerne gewusst, wie er so war. Sicher
ist Sicher. [...] Aber der Herr gab selbst auf mehrmaliges
Betreiben meinerseits keine brauchbare Antwort", schreibt der Sohn
in "Harmonia Caelestis".
Hier gelang Esterházy noch, was in der
"Verbesserten Ausgabe" nicht mehr funktionierte: die Geschichte
einer Wiederauferstehung mit der für ihn typischen Ironie zu
erzählen. Es ist keine herkömmliche Familienchronik.
Weder eine Chronologie noch deutlich erkennbare
Erzählstränge sind herauszulesen, fiktive und reale
Elemente werden bunt gemischt. Endlose Anekdotenströme und
lange, an Ereignisse geknüpfte Assoziationsketten: all das
macht das Werk nicht eben zu einer leichten Kost. Zu bieten hat
diese jahrhundertelange Familientradition aber einiges; sie
erzählt die Geschichte Ungarns. Schließlich sind aus ihr
einflussreiche Diplomaten und Politiker hervorgegangen.
Esterházy trauert den vergangenen Epochen, in denen
Persönlichkeiten von Goethe bis Churchill der Familie
begegneten, nicht nach. Aber die Ironie in einem Überfluss wie
hier ist manchmal zuviel des Guten.
Aus "Terror und Gewalt" musste auch diese
Familie, wie alle anderen, nach den Erfahrungen des Zweiten
Weltkrieges wiederauferstehen. Und doch war sie im kommunistischen
Ungarn nach 1945 nicht "wie alle anderen". Als Abkömmlinge
eines so bedeutenden aristokratischen Geschlechts wurden sie 1948
zunächst enteignet und aus Budapest in ein entlegenes Dorf
zwangsumgesiedelt. Es begann nun, was sich mit der Geburt des
Vaters während der Wirren der Räterepublik 1918
ankündigte: "Mein Vater", schreibt Esterházy, war "seit
Jahrhunderten der erste Esterházy gewesen, der rang- und
standesungemäß geboren wurde. [...] Damals konnten sie
sich noch gar nicht vorstellen, wie einfach wir rang- und
standesungemäß werden leben können, dass mein Vater
lediglich der erste in einer Reihe war, die noch lang zu werden
versprach."
Einfach war es nicht, dieses Leben. Nicht,
weil es unstandesgemäß war, sondern weil die
Esterházys sich zunächst in einem ärmlichen Alltag
zurechtfinden mussten, in dem die Mutter, wie unzählige andere
Mütter auch, Kartoffeln klaute. Und dennoch war diese Armut
vor dem Hintergrund der Familientradition "anders": "Wir
spürten, dass etwas Geheinmnisvolles in unserem
Verhältnis zur Armut lag, etwas nicht Normales. Praktisch
gesehen, so sahen wir es, waren wir arm, unsere Kleidung war
ärmlich [...]. Trotzdem gab es Zeichen dafür, dass diese
Armut auf einem obskuren Fundament aufbaute. Allein schon das
Kochen!" Trotz allem war die Mutter nämlich nicht davon
abzubringen, zum Essen eine Vorspeise zu zaubern, auch wenn diese
nur aus einer gekochten Zwiebel mit Mayonnaise bestand. Das
Silberbesteck, mit dem die Kinder, weil sie nichts anderes hatten,
ihre Mahlzeiten auch am sommerlichen Strand verzehrten, brachte sie
in Bedrängnis, denn Kinder wollen nicht anders sein: "Diese
Mittagessen unterstützten nicht gerade unsere Verschmelzung
mit den Massen des arbeitenden Volkes", fügt Esterházy
ironisch hinzu. Sie blieben, auch in der Schule, der
aristokratische Gegensatz, den sie oft als unangenehm
empfanden.
Der Erzähler als Zuhörer
Was sie nicht wussten: Ihr Vater hatte sich
außerhalb der Familie schon längst um die Aufhebung
dieses Gegensatzes bemüht. Was sie nicht ahnten: dass es nicht
nur der Alkohol und die Frauen waren, die ihn aus dem Haus trieben.
Irgendwann begann die Mutter ein Buch über seine
"Verfehlungen" zu führen, in dem Tage und Uhrzeiten seines
Fernbleibens aufgelistet wurden. Während er, der "Graf von
Nichts", schon an einem anderen "Buch" schrieb, sichtbar für
die Familie, aber doch unsichtbar: "Dennoch, als wir die Wohnung
betreten, sitzt mein Vater schon wieder an der Hermes Baby, die
ununterbrochen rattert, wie eine Maschinenpistole, er schlägt,
er drischt auf sie ein, und die Wörter
fließen..."
Die Familie als Bindeglied der Literatur
Péter Esterházys, als Grund dafür, warum bei ihm die
Wörter "fließen": In diesem Jahr erschien der 1985
entstandene Roman "Die Hilfsverben des Herzens" in einer
Neuauflage, ergänzt um ein Nachwort des ungarischen
Nobelpreisträgers Imre Kertész. Es geht um den Tod: Die
Mutter liegt im Sterben. Diesmal, im Krankenhaus, wird sie zur
Fremden: "Wir sahen uns beinahe gleichzeitig um und bemerkten das
Erschreckendste, dass sich unsere Mutter in nichts von ihren
Zimmergenossinnen unterschied. [...] Es war nichts an ihr, was wir
hätten erkennen können." Wie ihr Sterben die Lebenden,
konkret den Sohn, aus dem Rhythmus bringt, davon erzählt der
Roman. Davon, wie sich seine Existenz in einzelne Momente
auflöst, in eine Folge von Wahrnehmungen, in denen wiederum
nicht mehr klar ist, was wahr und erdacht ist - Esterházy ganz
in seinem Element. Bevor jedoch seine Welt gänzlich aus den
Angeln gehoben wird, bekommt er eine neue Struktur, sofern man bei
dem Roman davon sprechen kann, denn auch er bewegt sich nicht von A
nach B.
Die Geschichte wendet sich, als die Mutter
ins Leben zurückkehrt, während der Sohn als Toter gilt.
So erzählt auch dieses Buch von einer Wiederauferstehung. In
dem Rollentausch berichtet die Mutter selbst aus ihrem Leben, voll
von dichten Erinnerungen an Kindheit, Freunde, Krieg und
schließlich auch an ihren Mann. Dem Sohn bleibt nichts, als
zuzuhören. Am Ende jedoch kehrt die Realität zurück,
ohne Ironie. Der Erzähler führt uns noch einmal in die
letzten Tage der alten Frau. Er sitzt an ihrem Krankenbett etwas
hilflos, mikroskopisch beschreibt er ihren zerfallenen Körper,
es ist eine Liebeserklärung an die Mutter, die ihren Stolz
keineswegs verloren hat: "Du hast sie schön gefüttert,
deine alte Mutter", lobt sie den Sohn. Der kann nicht
erklären, was er erlebt, dieses Nicht-Verstehen aber sehr
klangvoll in Poesie umwandeln.
Péter Esterházy
Die Hilfsverben des Herzens.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main
2004;
131 S., 11,80 Euro
Claudia Heine arbeitet als Journalistin in
Berlin.
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