|
|
Igal Avidan
Sharon wartet auf die Zeit nach Arafat
Ein Sieg im israelischen Parlament über die
Siedler
Angesichts des bevorstehenden Todes von Jassir
Arafat herrscht in Israel große Anspannung. Zunächst aber
platzte der Traum von Groß-Israel im israelischen Parlament an
jenem Abend, als Premierminister Ariel Sharon eine klare Mehrheit
für seinen einseitigen Rückzugsplan erhielt. Demnach
werden bis Ende 2005 alle 21 jüdischen Siedlungen im
Gazastreifen. Zum ersten Mal sollen jüdische Siedlungen im
biblischen Land Israel evakuiert werden - und das nicht einmal im
Tausch gegen ein Friedensabkommen.
Die Ironie der Geschichte und eine besonders
bittere Pille für die Siedler ist, dass diese historische
Entscheidung ausgerechnet von Sharon, dem "Vater der Siedlungen",
kommt. Ohne die Stimmen der Opposition hätte Sharon keine
Mehrheit für den einseitigen Rückzug gehabt. Denn fast
die Hälfte der 40 Likud-Abgeordneten votierte dagegen, ebenso
wie die vier Parlamentarier der Nationalreligiösen Partei, die
noch der Koalition angehören. Sowohl die Arbeitspartei als
auch die linke Yachad-Partei von Yossi Beilin, dem Initiator der
Genfer Initiative, und die islamische Fraktion gewährten
Sharon eine "jüdische Mehrheit" (die Siedler halten die
arabischen Stimmen für ‚unkoscher').
Sharons Sternstunde war zugleich einer der
Tiefpunkte in der Karriere des Ex-Premiers Benjamin Ne-tanjahu. Er
war es, der im Kabinett für den Rückzug stimmte, nachdem
er Sharon zu einer vierstufigen Räumung der Siedlungen
gezwungen hatte. Aber einen Tag vor dem Votum im Parlament erhielt
er die Ergebnisse einer neuen Umfrage, wonach eine große
Mehrheit der Likud-Anhänger einem Rückzug nur nach einer
Volksabstimmung zustimmen würden. Ohne ein Plebiszit
wären sie gegen den Rückzug und für den
Rücktritt Netanjahus aus der Regierung, falls diese die
Räumung durchführt. "Bibi" rekrutierte drei weitere
Likud-Minister sowie einige Parlamentarier und stellte kurz vor der
Abstimmung Sharon ein Ultimatum: Entweder akzeptiere er eine
Volksabstimmung, oder sie würden dagegen votieren und den Plan
zum Scheitern bringen. Sharon sollte den Plenarsaal verlassen und
mit ihnen im Flur vor den TV-Kameras feilschen.
Der dachte gar nicht daran. Er blieb auf
seinem Stuhl sitzen und versuchte erfolgreich, seine große
Aufregung zu verbergen. Bei der namentlichen Abstimmung fehlten
Netanjahu, Bildungsministerin Limor Livnat, Gesundheitsminister
Dani Nave, Landwirtschaftsminister Israel Katz und Juval Steinitz,
Vorsitzender des Außen- und Sicherheitsausschusses des
Parlaments. Das Drama in der Knesset erreichte seinen
Höhepunkt. Das Wort von einem Putsch gegen Sharon machte die
Runde.
Der 76-jährige Ex-General weigerte sich,
mit den "Putschisten" überhaupt zu reden. Kurz zuvor hatte er
wissen lassen, dass jeder Minister, der gegen ihn stimme, sofort
entlassen werde. Nur kurz stand er auf, um seinen Fraktionskollegen
Eli Aflalo zu begrüßen, der nach einer Operation im
Rollstuhl und in ärztlicher Begleitung in den Plenarsaal kam,
um seine Stimme für Sharon abzugeben.
In der Kantine appellierte währenddessen
Oppositionsführer Shimon Peres an die arabischen Parteien,
nicht gegen Sharon zu stimmen, weil sie so den Rück-zugsplan
torpedieren würden. Das Letzte, was diese allerdings wollten,
war Sharon unter die Arme zu greifen, aber eine Räumung von
Siedlungen wollten sie keinesfalls verhindern. Erst als sie sich
der Stimme enthielten und die Nationalreligiösen Sharon eine
Frist von zwei Wochen gewährt hatten, bröckelte die Front
der "Putschisten". Einer nach dem anderen betraten sie den Saal und
stimmten mit versteinerten Mienen für Sharon - Netanjahu als
letzter. Kurz nach Bekanntgabe des Ergebnisses - 67 dafür, 45
dagegen, sieben Enthaltungen - pilgerten zahlreiche Parlamentarier
zu Sharon und gratulierten ihm, während Bibi im Flur vor
laufenden TV-Kameras erklärte, er wollte lediglich eine
Spaltung des Volkes und der Partei verhindern und werde innerhalb
von zwei Wochen sein Amt als Finanzminister niederlegen. Geglaubt
hat ihm niemand.
Acht Tage später siegte Sharon erneut,
diesmal bei der Abstimmung über die Entschädigung
für die geräumten Siedler. Wieder gelang es ihm mit den
Stimmen der Opposition und gegen die Likud-Rebellen, den Siedlern,
die freiwillig gehen, großzügigen finanziellen Ausgleich
zu gewähren. Die Abstimmung über den Jahresetat 2005
musste Sharon jedoch verschieben, weil die Arbeitspartei dem
Haushalt nicht zustimmen wollte.
Freuen konnte sich Sharon hingegen über
den Wahlsieg von George W. Bush, zu dem er ein wenig beigetragen
hatte. Während seines letzten Besuchs in Washington im April
fand Sharon keine Zeit für eine Begegnung mit John Kerry. Dass
er Kerrys jüdischen Bruder im Sommer in Jerusalem traf, half
dem Präsidentschaftskandidaten nur wenig. Sharon hat alles
darauf gesetzt, seine Politik mit Bush zu koordinieren, und wurde
belohnt: Sharon war ein angesehener Gast im Weißen Haus,
welches Jassir Arafat stets versperrt blieb. Als erster
amerikanischer Präsident äußerte Bush seine
Zustimmung zu einer künftigen Annexion der großen
Siedlungsblöcke durch Israel. In seiner Rede vom 14. April
sagte Bush, dass in jedem Abkommen die veränderte
"territoriale Wirklichkeit" berück-sichtigt werden müsse.
Diese Formulierung wurde als Duldung der israelischen
Siedlungsblöcke in der Westbank interpretiert. Gleichzeitig
wiederholte er sein Bekenntnis zur Gründung eines
lebensfähigen und territorial kontinuierlichen
Palästinenserstaates. Ob dieses Ziel mit der praktischen
Anerkennung der Siedlungen vereinbar ist, bleibt
abzuwarten.
Sharon weiß, wie sehr Israel von den USA
abhängig ist, vor allem in den Bereichen Sicherheit,
Wirtschaft und den internationalen Beziehungen. "Bush? Kerry?",
schrieb ein israelischer Kommentator, "God bless America, und bei
der Gelegenheit auch Israel." Und Amerika unter Bush wird sowohl
Sharons Rückzugsplan als auch seine Terrorbekämpfung
uneingeschränkt unterstützen, ihn mit keinerlei neuen
Friedensinitiativen belasten. Washington wird den Rückzug der
israelischen Truppen aus Gaza mitfinanzieren, vorausgesetzt, die
Gaza-Siedler würden nicht in die Westbank ziehen. Zwar sagte
Außenminister Colin Powell, dass Israel die Verhandlungen mit
den Palästinensern wieder mit dem Ziel aufnehmen solle,
weitere Siedlungen in der Westbank zu räumen und ein
Endabkommen zu unterzeichnen. Dies sei ein zentrales Ziel des
Weißen Hauses, betonte er. Aber Powell wird dem neuen
Bush-Kabinett wahrscheinlich nicht mehr angehören.
In diesen turbulenten Zeiten ist der
israelische Premier nicht nur auf politische Freunde, sondern
ironischerweise auch auf seinen Intimfeind aus der Zeit des
Libanonkrieg 1982 angewiesen: Jassir Arafat. Sharon sagte sogar, es
wäre besser, wenn Arafat damals in Beirut ums Leben gekommen
wäre. Seit dreieinhalb Jahren sperrt er den 75-jährigen
Palästinenserführer in seinem Hauptquartier in Ramallah
ein, weil Arafat Terroranschläge indirekt unterstützte
und Gewalt gegen Israelis mitfinanzierte. Gebetsmühlenartig
erklären israelische Politiker seit Jahren Arafat für
"irrelevant". Sharons Rückzugsplan gründet auf der
Prämisse, dass Israel keinen legitimen palästinensischen
Gesprächspartner habe.
Aber Arafat lebt noch, und die israelischen
Medien spekulieren täglich, ob er Blut- oder Darmkrebs habe
oder vielleicht Probleme im Verdauungstrakt. Nach dem
Selbstmordanschlag am Carmel-Markt in Tel Aviv sagte Juval
Steinitz, ein Doktor für Philosophie: "Arafat war, ist und
wird für immer und ewig verantwortlich sein. Arafat stellte
eine Realität des Terrors her, und auch wenn er sich nicht in
der Region befindet, hat diese Realität eine Eigendynamik".
General Jossi Kupferwasser vom militärischen Geheimdienst
stellte im Parlament drei mögliche Szenarien im Zusammenhang
mit Arafat vor: 1. Er kommt zurück und arbeitet weiter -
nichts ändert sich in der Palästinenserbehörde. 2.
Er ist krank und kehrt nicht zurück. In diesem Fall
würden die Terrororganisationen ihre Waffen nicht niederlegen,
ein Bürgerkrieg wäre aber ausgeschlossen. 3. Wenn er
stirbt wird die alte Garde der Fatah gemeinsam mit der
Interimsgeneration versuchen, die Regierung und Wirtschaft zu
reformieren und die Sicherheitsorgane zu einigen. Radikale Gruppen,
die die Reformen ablehnen, werden versuchen, den Terror zu
verstärken. Die Pragmatiker um Abu Mazen werden hingegen
versuchen zu zeigen, dass Israel einen Partner für
Verhandlungen hat.
Mit dem eventuellen Tod Arafats wird auch das
israelische Argument zu Grabe getragen werden, man habe keinen
palästinensischen Gesprächspartner und müsse daher
seine Grenzen einseitig bestimmen. "Mit dem Verschwinden Arafats
würde ein Ende des Konflikts möglich", sagte der Leiter
des militärischen Geheimdiensts, General Aharon Se'evi. Mit
Arafats möglichen Nachfolgern, die den Terror immer ablehnten,
allen voran dem ehemaligen Premierminister Mahmud Abbas (Abu
Mazen), hat Sharon keinerlei Probleme. Außenminister Silvan
Shalom fädelt bereits einen Kompromissvorschlag ein: Der
einseitige Rückzug soll demnach verschoben werden, bis sich
eine neue palästinensische Führung im Amt etabliert und
die Kontrolle über den Gazastreifen vertraglich absichert.
Eine derartige Einigung würde den Rücktritt Netanjahus
und einen Machtkampf im Likud verhindern. Soll Israel daher rasch
Verhandlungen mit der palästinensischen Führung mit dem
Ziel aufnehmen, die Grenzen des künftigen Staates
Palästina einschließlich der in Jerusalem festzulegen und
das Flüchtlingsproblem zu lösen?
Dazu sieht Sharon wenig Anlass. Zum einen
fordert er auf der Grundlage der "Road Map" eine Reform der
Palästinenserbehörde (vor allem die Auflösung der
zahlreichen Sicherheitsorgane) und eine aktive Bekämpfung des
Terrors. Erst dann wird Israel Verhandlungen mit Arafats Nachfolger
aufnehmen. Darüber hinaus kann Sharon davon ausgehen, dass
Bush während der Vorbereitungen des einseitigen Rückzuges
keine weiteren Forderungen stellen wird, zum Beispiel die
Räumung der illegalen Vorposten in der Westbank.
Amerikanischer Druck in Richtung weiterer Evakuierungen von
Siedlungen, würde Sharon argumentieren, werde unweigerlich
seine Regierung zu Fall bringen.
Zurück zur Übersicht
|