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Susanne Kailitz
Als die Mauer plötzlich offen war
Damals...vor 15 Jahren am 9. November: Die
Bundestagssitzung in einer historischen Stunde
Als die Abgeordneten am 9. November 1989 pünktlich um 9.00
Uhr zur 174. Sitzung der 11. Wahlperiode des Deutschen Bundestags
eilen, ahnen sie nicht, welche Aufregung der Tag noch bringen wird.
Auf der Tagesordnung stehen Programmpunkte wie "Schätzung der
EG-Getreideernte durch die EG-Kommission" und Beratungen über
das Rentenreformgesetz. Spannend wird es nur kurz, als
Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) aus formalen
Gründen einen Ordnungsruf gegen den CDU-Abgeordneten Wilfried
Böhm zurückzieht, der einige Tage zuvor der
SPD-Politikerin Heidemarie Wieczorek-Zeul vorgeworfen hatte, mit
den "Mauermördern" zu koalieren. Danach gibt es
Parlamentsroutine - bis kurz nach 20.00 Uhr.
Die DDR-Grenzen sind geöffnet. Das hat soeben die
Tagesschau verkündet. Dieser Meldung ist eine Pressekonferenz
in Ostberlin im Anschluss an das ZK-Plenum der DDR vorausgegangen.
Um 18.53 Uhr hatte der hohe SED-Funktionär Günter
Schabowski einen Beschluss des DDR-Ministerrates verlesen, in dem
es hieß, "Privatreisen nach dem Ausland können ohne
Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden. Die Genehmigungen
werden kurzfristig erteilt." Auf Nachfrage eines Journalisten
fügte er hinzu, nach seiner Kenntnis trete diese Neuerung
"unverzüglich" in Kraft.
Draußen überschlagen sich die Ereignisse. Kurz nach
Schabowskis Mitteilung haben die völlig überforderten
Grenzposten am Übergang Bornholmer Straße in Berlin als
erste die Schlagbäume geöffnet, weil sie von
Menschenmassen bestürmt wurden. Drinnen, im Bonner Wasserwerk,
beraten die Parlamentarier über das
Vereinsförderungsgesetz. Doch plötzlich kommt Leben in
die Reihen der Abgeordenten: Der CSU-Abgeordnete Karl Heinz Spilker
informiert seine Kollegen darüber, dass die Grenzen für
die DDR-Bürger geöffnet worden sind. Das löst
anhaltenden Beifall bei CDU/CSU, FDP und SPD aus - und führt
zu einer Unterbrechung der Sitzung von 20.22 Uhr bis 20.46 Uhr.
Nach der Unterbrechung gibt Kanzleramtschef Rudolf Seiters (CDU)
eine Stellungnahme der Bundesregierung ab. Darin bezeichnet er die
Freigabe von Besuchs- und Ausreisen aus der DDR als einen "Schritt
von überragender Bedeutung". Es bleibe dabei, was
Bundeskanzler Kohl in seiner Regierungserklärung nur einen Tag
zuvor betont hatte: Man wolle "einen Weg des Wandels" stützen,
wenn die DDR-Regierung in Reformen einwilligen werde. Man sei "zu
umfassender Hilfe bereit, wenn eine grundlegende Reform der
politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR
verbindlich festgelegt" werde, die SED auf ihr Machmonopol
verzichte und freie Wahlen zusage. Die geschichtlichen Prozesse,
die man gerade erlebe, eröffneten auf friedliche Weise Chancen
und Perspektiven - und erforderten "ein ganz hohes Maß an
Solidarität". Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags
müssten "gemeinsam an unsere Bevölkerung appellieren,
diese Solidarität in einer historischen Stunde auch unter
Beweis zu stellen".
Bundeskanzler Helmut Kohl selbst befindet sich zum Zeitpunkt der
bedeutenden Ereignisse zu einem offiziellen Staatsbesuch in Polen.
Sein Stab bereitet hektisch seine Abreise vor - schließlich
soll der Regierungschef nicht wie vor Jahren Konrad Adenauer ins
Kreuzfeuer der Kritik geraten. "Der Alte" hatte 1961 scheinbar
ungerührt seinen Bundestagswahlkampf fortgesetzt, als Walter
Ulbricht am 13. August die Mauer bauen ließ.
In Bonn herrscht unterdessen Freude. SPD-Chef Hans-Jochen Vogel,
der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Alfred Dregger,
FDP-Fraktionschef Wolfgang Mischnick und Grünen-Sprecher
Helmut Lippelt zeigen sich in ihren ersten Stellungnahmen tief
bewegt. Man müsse nun, so Vogel, große Anstrengungen
unternehmen, damit die Menschen, die in der DDR zuhause seien, dort
auch zuhause bleiben könnten. Unter dem Beifall aller
Fraktionen betont Dregger, er hoffe, dass jetzt das eintreten
werden, "wofür die Demonstranten in der DDR auf die
Straße gegangen sind: Frieden, Freiheit, Demokratie und
Menschenrechte".
Dann passiert etwas, das es im Bundestag bis dahin noch nie gab:
Die Unionsabgeordneten Hermann Unland und Ernst Hinsken stimmen die
Nationalhymne an - und die Abgeordneten erheben sich geschlossen
von ihren Plätzen. Fast alle singen mit, nur einige
Grünen-Abgeordnete verlassen den Saal. Danach ist eine
Rückkehr zur Tagesordnung unmöglich geworden.
Vizepräsidentin Annemarie Renger (SPD) stellt fest, "dass
dieser Tag es eigentlich erfordert, nicht in diesen Beratungen
fortzufahren" und beendet die Sitzung.
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