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Klaus Hurrelmann
Gesund bin ich, solange ich funktioniere
Der Körper ist ein
Arbeitsinstrument
In allen westlichen Gesellschaften leben heute
Frauen sieben Jahre länger als Männer. Die Unterschiede
der Lebenserwartung der beiden Geschlechter sind in den vergangenen
beiden Jahrhunderten immer stärker geworden. Um 1900 betrug
der Abstand der Lebenserwartung nur drei Jahre. Männer wurden
im Durchschnitt 45, Frauen 48 Jahre alt. Heute beträgt die
durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt für eine Frau
schon fast 81 Jahre, für einen Mann 74. Wie kommen diese
Unterschiede zustande? Sie bauen sich schrittweise über den
gesamten Lebenslauf auf.
Schon bei der Geburt ist die Sterblichkeit
von männlichen Säuglingen höher als die von
weiblichen. In den anschließenden Lebensjahren, vor allem nach
der Pubertät, sind erheblich mehr männliche Kinder von
Unfällen betroffen als weibliche. Über den ganzen
weiteren Lebenslauf hinweg ist die Unfallhäufigkeit der
Männer größer als die der Frauen. Das gilt auch
für das Risikoverhalten allgemein. Männer ernähren
sich schlechter, treiben weniger Sport und konsumieren mehr Drogen.
Sie betreiben Raubbau mit ihrem Körper. Auch die
Selbsttötungsrate ist bei ihnen höher, und zwar vom
Jugendalter an bis in die Seniorenzeit.
Dieses ist noch nicht das gesamte Bild, denn
Män-ner sind über den ganzen Lebenslauf hinweg, mit
Aus-nahme vielleicht des ersten Lebensjahrzehnts, stärker als
die Frauen durch Krankheiten belastet, die zum Tode führen.
Sie sind bei den wichtigsten Todesursachen in allen Fällen
stärker betroffen als Frauen. Das gilt besonders bei
Herzkrankheiten, Krebs, Hirnschlag, AIDS, Lungenkrankheiten und
Diabetes. Und zu allem Überfluss meiden Männer auch
medizinische und psychologische Hilfeleistungen. Vom Jugendalter an
suchen sie erst bei ganz akuten Beschwerden einen Arzt auf. Frauen
hingegen fühlen sich viel früher und viel häufiger
krank und holen sich ärztliche oder andere professionelle
Hilfe, übrigens auch persönliche Unterstützung im
Freundes- und Familienkreis. Männer sträuben sich
geradezu davor, frühzeitig Hilfe anzurufen. Sie neigen zum
Verdrängen von Belastungen im körperlichen und
psychischen Bereich, was zu einem Aufschaukeln von
Krankheitssymptomen und schließlich dann eben zu einer
höheren Sterblichkeit führen kann.
Während Männer
Beeinträchtigungen und Be-schwerden am liebsten aus dem
Bewusstsein verbannen wollen, sind Frauen geneigt, auch schon
kleine Störungen als aussagekräftige Hinweise auf eine
beeinträchtigte Gesundheit zu werden. Frauen sind kritischer
und unzufriedener mit ihrem Gesundheitszustand als Männer, sie
haben die größere Sensibilität und Empfindlichkeit,
die oft sogar bis zur Überempfindlichkeit gehen
kann.
Die kürzere Lebenserwartung der
Männer hängt also ganz eindeutig mit ihrem
Gesundheitsverhalten und ihrem gesamten Lebensstil zusammen.
Gesundheit ist nach dem Verständnis der modernen
interdisziplinären Forschung die ständige, im Lebenslauf
immer erneut vorzunehmende Balance zwischen den Risiko- und den
Schutzfaktoren im körperlichen und psychischen Bereich, aber
auch in der sozialen und physischen Umwelt. Männer und Frauen
sind dann gesund, wenn sie im Einklang mit ihrem Körper, ihrer
Psyche und ihrer Umwelt leben, wenn sie Innen- und
Außenanforderungen bewältigen und ihre Lebensgestaltung
an die verschiedenen Anforderungen des Lebensumfeldes anpassen
können.
Hier gehen die Männer im Vergleich zu
Frauen ganz offensichtlich erheblich mehr Risiken ein, die ihre
Gesundheits-Krankheits-Balance gefährden. Sie haben teilweise
ein rücksichtsloses Verhalten ihrem Körper
gegenüber. Das zeigt sich schon im Jugendalter, in dem sich
die geschlechtstypischen Ziele des körperbezogenen Verhaltens
deutlich herausbilden. Der Umgang mit dem eigenen Körper ist
immer auch ein Ausdruck von Männlichkeit oder Weiblichkeit.
Viele Männer betrachten ihren Körper funktional, als eine
Art Leistungsmaschine, die nur dann gewartet werden muss, wenn sie
völlig aus dem Takt geraten ist. Sie betrachten ihren
Körper häufig als einen inneren Gegner, der kämpft
und besiegt werden muss, um übergeordnete, insbesondere auch
berufliche Ziele zu erreichen. Gesundheit wird in diesem Sinne als
Leistungsfähigkeit verstanden, mit dem Körper und Psyche
der (be-ruflichen) Arbeit unterzuordnen sind. Ein solches
instrumentelles Verhältnis zum Körper prägt sich im
gesamten Gesundheitsverhalten aus. Viele Männer reagieren auf
gesundheitliche Störungen erst dann, wenn ihre
Arbeitsfähigkeit ernsthaft beeinträchtigt ist. Sie
glauben, dass Disziplin und Arbeit für sich genommen
eigentlich gesundheitsfördernd wirken. Sie suchen meist dann
einen Arzt auf, wenn die Krankheit sich schon in einem
fortgeschrittenen Stadium befindet. Hier schimmert das alte Muster
durch, das immer noch in Erziehung und Sozialisation vorherrscht:
Ein Mann ist Indianer, und ein Indianer kennt keinen Schmerz.
Entsprechend sind Anspannungen und Belastungen im körperlichen
und psychischen Bereich heroisch zu ertragen. Wenn Jungen vor
Schmerzen weinen, dann riskieren sie ihren Platz in der
männlichen Hierarchie. Frauen werden hingegen schon im
Jugendalter dazu angehalten, mit ihrem Körper pfleglich und
sorgsam umzugehen. Durch die monatliche Regelblutung werden sie
immer wieder an ihren Körper erinnert und dadurch mehr oder
weniger gezwungen, im Einklang mit ihren physiologischen
Möglichkeiten zu leben. Sie sind es gewohnt, sich auf ihren
Körper einzustellen und Rücksicht zu nehmen.
Die Muster von Erziehung und Sozialisation
stützen sich auf traditionelle gesellschaftliche und
kulturelle Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit.
Männer gelten in unserer Gesellschaft als das starke
Geschlecht, und das heißt, sie werden als leistungsfähig
und machtvoll und damit auch automatisch als gesund
wahrgenommen.
Der Preis für diese Wahrnehmung ist:
Männer dürfen nicht krank werden. Zugespitzt lässt
sich deswegen sagen, dass die soziale Rollenvorstellung von Mann
und Männlichkeit in unserer Kultur per se einen Risikofaktor
für die Gesundheit darstellt. Denn die traditionellen
Rollenmuster bekräftigen Männer darin, über erste
Krankheitssymptome hinwegzusehen und sie mit Entschiedenheit zu
ignorieren.
Männer halten ihren Körper für
einen Besitz, mit dem sie wuchern können. Sie sind
verärgert, wenn ihr Körper nicht funktioniert, sie sind
bereit, den Körper zu trainieren, wenn sie sich davon soziale
Vorteile versprechen, aber sie nehmen ihren Körper eigentlich
als Bestandteil ihres Wesens voll wahr. Am Ende des Lebens summiert
sich diese Kombination aus Verdrängung und Ignoranz zu der
höheren Todesrate.
Forschungen an männlichen und weiblichen
Ju-gendlichen, die die Universität Bielefeld seit einigen
Jahren durchführt, zeigen: Die Differenz der Geschlechter,
auch und gerade ihre gesundheitlichen Unterschiede, sind nicht
genetisch programmiert und festgeschrieben. Biologische Faktoren
legen das Geschlecht nur auf einer spezifischen Ebene fest,
ermöglichen aber erhebliche Einflüsse durch
Eigenaktivität und Umweltimpulse. Weiblichkeit und
Männlichkeit werden gelebt und gewissermaßen auch
individuell hergestellt, in dem ein Mann oder eine Frau mit der
physiologischen Ausstattung, der körperlichen Konstitution,
dem angelegten Temperament und den psychischen Grundstrukturen
individuell arbeitet und diese mit der sozialen und physischen
Umwelt in eine Einheit bringt. Die jeweilige individuelle
Ausgestaltung dieses Wechselverhältnisses ist es, welche die
Persönlichkeit definiert und die Gesundheitsdynamik bestimmt.
In diese Dynamik gehen die Kerndimensionen von Männlichkeit
und Weiblichkeit ein, die nun einmal angelegt und angeboren sind -
durch kulturelle und gesellschaftliche Vorgaben jedoch,
insbesondere die Vorstellungen vom Mannsein und vom Frausein,
werden die inneren Erfahrungen und Körper und Psyche sehr
stark beeinflusst.
Männergesundheit ebenso Frauengesundheit
kann deswegen nicht allein durch genetische oder
körperbezogene Faktoren erklärt werden. Vielmehr gehen
die gesellschaftlich geprägten Rollenmuster der beiden
Geschlechter voll ein. Die Fixierung der Männer auf die
Berufsrolle, die in unserem Kulturkreis spätestens seit der
Industrialisierung vorherrscht, unterstreicht die
instrumentalistische Haltung dem eigenen Körper und der
Gesundheitspflege gegenüber, die Männer an den Tag legen.
Demgegenüber ist die Doppel- und Dreifachbelastung durch
Beruf, Haushalt und Kindererziehung, die immer typischer für
Frauen wird, nicht nur allein von Nachteil. Die Mehrfachbelastung
scheint auch Mehrfachgestaltungsmöglichkeiten mit
entsprechender Flexibilität der Lebensführung mit sich zu
bringen. Frauen sind nicht wie Männer auf eine Berufsrolle
fixiert, sondern können auch Erfahrungen und Erfolge durch
einen Wechsel ihres Lebensmittelpunktes erzielen. Sie können
vorübergehend die Berufsrolle verlassen, um die Mutterrolle zu
übernehmen, ohne dabei in irgendeiner Form gesellschaftlich
geächtet zu werden. Demgegenüber sind Männer einzig
und allein darauf angewiesen, Erfolg im Beruf nachweisen zu
können und damit die gesellschaftlich erwartete Position zu
erfüllen und die finanzielle Absicherung einer Familie zu
gewährleisten. Männer kannten Macht und Einfluss,
Anerkennung und Aufmerksamkeit, zugleich aber sind sie in der
modernen Konkurrenzgesellschaft auf Gedeih und Verderb auf Erfolg
angewiesen. Die traditionellen drei "K" der Frau waren Kinder,
Küche und Kirche, heute ist als viertes "K" die Karriere
hinzugekommen. Die drei "K" des Mannes sind, spöttisch
gesprochen, Konkurrenz, Karriere und Kollaps. Ein Scheitern im
Beruf ist für einen Mann auch ein Scheitern im Leben, weil es
wenige Ausweichfelder für die Selbstbetätigung und die
Selbstbestätigung gibt. Die Beeinträchtigung der
Männergesundheit ist also soziologisch gesehen ein
gesellschaftlicher Konstruktionsfehler. Erst wenn Männer vom
Familienleben, vom häuslichen Kontext und von der
Kindererziehung nicht mehr ausgeschlossen werden und sich der breit
gefächerten Anforderung von Berufs- und Privatbereich, von
Haushalt und Kinderhaben stellen, können sie ihre
Gesundheitsbilanz verbessern.
Klaus Hurrelmann ist Professor an der
Fakultät für Gesundheitswissenschaften der
Universität Bielefeld.
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