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Oliver Geden
Das Geheimnis von Tabellen und Tischtennis
Der wahre Grund für die Liebe der
Männer zum Ball
Die diesjährige Fußball-EM brachte neben dem
Titelgewinn Griechenlands eine zweite große Überraschung:
den hohen Anteil von Zuschauerinnen, die das Turnier - völlig
unabhängig vom Abschneiden der deutschen Mannschaft - bis zum
Finale verfolgten. Im Jahr zuvor gewann die deutsche
Frauenfußballnationalmannschaft sogar den Weltmeistertitel,
ein Erfolg, der von ihrem männlichem Pendant in naher Zukunft
kaum zu erwarten sein dürfte. Hat also der Fußball,
möglicherweise der Sport insgesamt, als Männerdomäne
ausgedient? Keineswegs.
Die moderne Sportkultur ist seit ihrem Entstehen im 19.
Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein eine Sphäre, in der
Männer im Wesentlichen unter sich bleiben. Zwar sind in
Sportvereinen fast ebenso viele Frauen wie Männer engagiert,
in der Sportberichterstattung von Tageszeitungen aber handeln nur
15 Prozent der Artikel von Sportlerinnen - nicht zuletzt deshalb,
weil sich das öffentliche Interesse an Mannschaftssportarten
weitgehend auf Herrenteams beschränkt, auch beim in der
europäischen Sportkultur hegemonialen Fußball. Zwar
verfolgen - vor allem jüngere - Frauen vermehrt internationale
Fußballturniere, aber nur wenige bringen anschließend ein
kontinuierliches Interesse für den Spielbetrieb der
Vereinsmannschaften auf. In deutschen Fußballstadien stellen
Männer und Jungen die überwiegende Mehrheit, und auch
unter der zahlenmäßig sehr viel größeren Gruppe
jener, die den Spielbetrieb Woche für Woche lediglich
über die Medien verfolgen, sind nur relativ wenige Frauen zu
finden. Das stille Vergnügen, sich spätestens am
Montagmorgen in die aktualisierten Tabellenstände der
relevanten Fußballligen zu vertiefen, bleibt überwiegend
Männern vorbehalten.
Der Grundstein für die hochgradige Affinität von
Männern für die Welt des Sports wird bereits früh
gelegt. Anders als bei Mädchen existiert für Jungs
bereits früh ein sozialer Druck, sich als Fan zu einem
Fußballverein zu bekennen. In Verbindung mit gelegentlichen
Stadionbesuchen, häufig in Begleitung von Vätern oder
älteren Brüdern, einer zumindest kurzen Karriere in
örtlichen Jugendmannschaften und einem ausgedehnten TV-Konsum
entsteht eine dauerhafte und emotionale Verbindung zum
Fußballsport und zu einem spezifischen Club.
Die Arten und Weisen der Identifikationen verändern sich
freilich im Übergang vom Jugendalter ins Er-wachsenenleben.
Die Hoffnung auf eine eigene Fußballkarriere musste in der
Regel bereits früh aufgegeben werden, die umstandslose
Identifikation mit einzelnen Spielern schwindet. Es bleibt kaum
noch die Zeit, um sich beinahe jede Fernsehübertragung
anzuschauen und sich von einem verloren Spiel des "eigenen" Clubs
das ganze Wochenende vermiesen zu lassen. Aber vor allem bei
internationalen Turnieren sind viele Männer ohne weiteres
bereit, die Terminierung beruflicher wie privater Verpflichtungen
schon Wochen im voraus mit dem jeweiligen Spielplan abzuglei-chen.
Und nicht selten reiben sich ihre Partnerinnen verwundert die
Augen, ob deren hochgradig emotionaler Anteilnahme am
Spielgeschehen. Diese resultiert nicht nur aus der Identifikation
mit der eigenen Mannschaft, sondern auch aus den eigenen
Erfahrungen "auf dem Platz". Wer jemals im Verein ein
entscheidendes Tor erzielt, als Elfmeterschütze versagt oder
mit den Mannschaftskameraden ein völlig unverdientes 0:0
über die Zeit gerettet hat, ist physisch und psychisch kaum in
der Lage, ähnliche Spielsituationen am Fernsehschirm
unbeteiligt zu verfolgen.
Dieser jahrzehntelange Prozess der Ansammlung von
Fußballerfahrungen und Fußballwissen bringt für die
darin involvierten Männer zwei wesentliche Annehmlichkeiten
mit sich. Erstens lässt sich darüber nicht nur Milieu
übergreifend, sondern gar weltweit (mit Ausnahme der USA)
trefflich small-talken , zweitens bedeutet es die frühzeitige
Einübung eines lustvollen und gesellschaftlich überaus
nützlichen Umgangs mit Konkurrenzen und Hierarchien.
Der gesamte moderne Sport, keineswegs nur der Fußball, ist
in seiner inneren Logik auf den Wettkampf und den Sieg
ausgerichtet. Es ist letztlich nicht wichtig, ob eine Mannschaft
schön gespielt hat, sondern ob "etwas Zählbares dabei
herausgekommen ist". Oder in den Worten Otto Rehagels: "Modern ist,
wer gewinnt!" Sport funktioniert deshalb nicht ohne
Dokumentationssysteme, die Athleten oder Teams in hierarchische
Reihenfolgen bringen: Ranglisten und Tabellen. Schon auf Jungs
übt dieses nach objektiven Kriterien sortierte Datenmaterial
eine ungemeine Faszination aus. Sie studieren nicht nur jegliche
verfügbare Tabelle, sie kreieren mit Vorliebe auch eigene.
Während man als Jugendlicher vor 20 Jahren den kompletten
Bundesliga-Spielplan anhand des "Kicker"- Sonderhefts
auswürfelte oder mit dem Tipp-Kick-Spiel durcharbeitete, hat
sich das Interesse heute auf Computerspiele verschoben, in denen
man als Manager eines Fußballclubs agiert und sein Team durch
die richtigen Entscheidungen auf einen vorderen Tabellenplatz
bringt.
Die Bewertung realer wie irrealer Ranglisten funktioniert
allerdings immer nur über ein mehr oder weniger komplexes
System von Zu- und Abneigungen. Eine Tabelle ist nur dann wirklich
interessant, wenn man sich eine Meinung darüber gebildet hat,
wer oben stehen soll und wer unten, wer Meister werden muss und wer
keinesfalls absteigen darf. Hat man diese Entscheidungen einmal
gefällt - und Gründe dafür sind schnell gefunden -,
ist potentiell jeder Wettbewerb interessant. Die Geschehnisse in
den europäischen Fußballligen ebenso wie die Performance
des Heimatvereins in der Kreisklasse B.
Auch Formel 1-Rennen, die Tour de France oder Skispringen
können auf diese Weise mit Anteilnahme verfolgt werden -,
vermittelt über den Medaillenspiegel wird so selbst ein
olympischer Vorlauf im Rudern interessant. Und da alle diese
Wettbewerbe letztlich auf datenförmigen Ranglisten beruhen,
ist es nicht notwendig, das Geschehen am Fernsehschirm zu
verfolgen, es genügen auch die auf einem höheren
Abstraktionsgrad beruhenden Live-Ticker und Ergebnislisten im
Internet und im Teletext.
Der sportliche Wettkampf wird so für viele Männer zum
Abbild der Welt. Wer soll oben stehen, wer unten? Wie verorte ich
mich im Verhältnis zu anderen? Es ist immer noch besser, auf
Tabellenposition 8 zu stehen als auf Platz 9, auch wenn es
keinerlei materielle Konsequenzen mit sich bringt. Position12 kann
auch in Ordnung sein, wenn der Intimfeind hinter einem platziert
bleibt. Die Regeln eines Wettbewerbs müssen nicht logisch
sein, damit Männer ihn gewinnen wollen, der Prozess muss nur
zu objektiven Da-ten führen, die eine Hierarchisierung
möglich machen. Nicht ganz zufällig folgen in
Tageszeitungen Börsen- und Sportteil direkt aufeinander.
Männer lieben Zahlen und Statistiken. Tischtennis zu
spielen, ohne die Punkte zu zählen, finden sie langweilig. Sie
denken über ihre Marathonbestzeit ebenso gerne nach wie
über das Überschreiten magischer Grenzen beim
Jahresgehalt, sie kennen die Golfhandicaps ihrer
Geschäftspartner und sind über die neuesten
Tabellenstände bestens informiert. Wer wissen will, wer in der
Frauenbundesliga zur Zeit vorne steht, fragt am besten einen von
uns.
Der Autor arbeitet am Institut für europäische
Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin
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