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Stephan Höyng
Hilfestellung im Lebensdschungel
Ja, wie denn nun? Die Verunsicherung der
Jungen
Seit ihren ersten zaghaften Versuchen Anfang der
1980er-Jahre in der außerschulischen Bildungsarbeit hat sich
die Arbeit mit Jungen in vielen Feldern der Kinder- und
Jugendarbeit ausdifferenziert zu einer relativ bekannten
Arbeitsform entwickelt. Sie lässt sich ableiten aus der
Querschnittsaufgabe der "Berücksichtigung der spezifischen
Lebenslagen von Jungen und Mädchen", die durch Paragraf 9 BSHG
VIII allen Arbeitsbereichen der Jugendarbeit vorgeschrieben ist.
Sie bewegt sich heute in mehreren Spannungsfeldern, in denen
Jungenarbeiter ihre Haltung finden müssen.
Viele Jungen fühlen sich heute durch den
Widerspruch zwischen zahlreichen möglichen
Lebensentwürfen einerseits und ihren zum Teil schlechten
Chancen am gegenwärtigen Arbeitsmarkt andererseits
verunsichert, viele Orientierungen werden beliebig. In diesen
rasanten Veränderungen werden manche Aspekte traditioneller
Männlichkeit auch für den einzelnen Jungen zu einem
belastenden Faktor. Hier muss Jungenarbeit ansetzen. In der Praxis
orientieren sich Jungenarbeiter leider meist an einer einheitlichen
Beschreibung "des Mannes" und setzen sich von traditioneller,
vorherrschender Männlichkeit mit dem Leitbild einer "neuen"
Männlichkeit ab. Doch Jungenarbeit soll zeigen, welche
Verhaltensweisen oder Lebensstile heute möglich und angemessen
sind, ohne neue Normen zu schaffen. Da eine Stabilisierung der
Identität nicht ohne Selbststilisierung auskommt, bietet auch
die des "neuen Mannes" nur eine trügerische Sicherheit.
Stattdessen sollten Jugendliche von diesem Zwang zur
Männlichkeitsinszenierung entlastet werden, indem auf "eine
aus diesen Widersprüchen entstammende Instabilität
männlicher Identität" (Krabel/Schädler) hingewiesen
wird. So kann auch die eigene Geschichte als veränderbar
verstanden werden. Ziel ist ja gerade nicht die Herausbildung einer
Perspektive, in der die Selbstvergewisserung von
"Männlichkeit" oder "Weiblichkeit" als
Problemlösungsressource erscheint.
Ein zentrales Spannungsfeld für die
Jungenarbeit ergibt sich daraus, dass sie einerseits die
Gleichstellung der Geschlechter fördern, Macht- und
Dominanzverhalten von Jungen abbauen und Männlichkeit kritisch
hinterfragen soll. Insoweit müssen entgegen den aktuellen
Interessen von Jungen Grenzen gesetzt werden. Andererseits soll
Jungenarbeit spezifisch Jungen fördern. Um die
Persönlichkeit von Jungen zu stärken, sollen deren
Defizite abgebaut, ihre Ressourcen aufgegriffen und ihre
Handlungsmöglichkeiten erweitert werden.
Anfangs und vereinzelt heute noch wurde
Jungenarbeit daraus begründet, dass Mädchen
geschützt werden, indem Sexismus schon bei Jungen entschlossen
entgegen getreten wird. Dieser antisexistische Ansatz war zu stark
aus der patriarchatskritischen Theorie gespeist und konnte kaum auf
konkrete Erfahrungen der Jungenarbeit zurückgreifen. Dieser
Ansatz wird von den heutigen, sich meist parteilich verstehenden
Jungenarbeitern als überholt angesehen und abqualifiziert.
Doch auch wenn die Kritik daran nicht unberechtigt ist, die
gegenwärtig vorherrschende Tendenz, einzig und allein auf die
Stärkung von Jungen zu setzen, ist in ihrem isolierten Blick
auf den Einzelnen ebenfalls unangemessen. Soziale Fragen und
gesellschaftliche Strukturen und die Lebenslagen von Jungen
müssen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Die
Probleme, die Jungen machen, müssen in Verbindung mit ihren
Defiziten, Bedürfnissen und Möglichkeiten verstanden
werden. Erst dann können Pädagogen bestimmte
Bedürfnisse von Jungen als Ressourcen nutzen, aber auch
Verhalten eingrenzen, das Ungleichheit produziert.
Ein weiteres Spannungsfeld: Einerseits will
Jungenarbeit die Differenzen zwischen den Geschlechtern und den
Geschlechterbildern abbauen beziehungsweise auflösen.
Andererseits greift sie in ihrer Arbeit zunächst genau diese
Differenz auf, indem sie sich spezifisch mit Jungen
beschäftigt und immer wieder auf die Kategorie Geschlecht
aufmerksam macht. Um diese Benennung kommt geschlechtsspezifische
Arbeit nicht herum: Geschlecht wird in unserer Gesellschaft
einerseits immer wieder überbetont (was die biologischen
Differenzen betrifft), andererseits unterbetont (was die sozialen
Folgen der Zugehörigkeit zu einer Geschlechtsgruppe angeht).
Die 13. Shell Jugendstudie aus dem Jahr 2000 hat herausgefunden,
dass Jungen wie Mädchen zunehmend den Eindruck haben, es
gäbe keine berufliche Benachteiligung von Frauen mehr. Mit
einer grundsätzlichen und unhinterfragten Thematisierung von
Geschlecht droht gerade bei diesen Jugendlichen eine
"Dramatisierung", eine Festschreibung von Geschlechterdifferenzen.
Hier schlägt Faulstich-Wieland eine "Entdramatisierung" von
Geschlecht vor, ohne faktische Ungleichheiten zwischen den
Geschlechtern zu leugnen. Vielmehr sollen die handelnden Personen
selber festlegen, ob und welche Kategorie von Ungleichheit (Alter,
Ethnie, Schicht, Stadt/Land) in ihr Blickfeld gerückt wird. In
Verbindung mit den verschiedenen Kate-
gorien von Ungleichheit kann erneut abgewogen
werden, welche Bedeutung Geschlecht im jeweiligen Zusammenhang
hat.
Hier muss sich Jungenarbeit wie jede
Jugendarbeit an Bedürfnissen orientieren. Aus unserer offenen
Jungenarbeit haben wir die Erfahrung gewonnen, dass gerade Jungen
zwischen 10 und 13 Jahren allgemein an geschlechtsspezifischen
Angeboten interessiert waren. Bei älteren Jungen traf
Geschlechtertrennung lediglich bei bestimmten Fragestellungen auf
Interesse. Nur in Feldern, in denen Jungen Geschlechterdifferenzen
auch emotional erleben (können) und die ihre Lebenswelt
unmittelbar berühren, kann Geschlecht auch sinnvoll
thematisiert werden.
Dann aber müssen Reflexionen oder
Sachinformationen in Verbindung stehen mit dem Ziel der Aufhebung
von Geschlechterzuschreibungen und Diskriminierung. Vor dem
Hintergrund der benannten Themen stellt soziale Arbeit mit Jungen
(mit Pädagoginnen) und Jungenarbeit (mit männlichen
Pädagogen) sehr hohe Anforderungen an beide
Pädagogengruppen: Die, die praktische soziale Arbeit mit
Jungen leisten, reflektieren neben in der Theorie verankerten
Zielsetzungen und Ansätzen die eigenen Verwicklungen in die
gegenwärtigen Geschlechterverhältnisse und deren
Verknüpfung mit Macht und Herrschaft. Die soziale Arbeit mit
Jungen zielt auf einen anderen Umgang mit Konflikten, Gefühlen
und Aggressionen; sie erreicht die Bereitschaft zu einer neuen
Sorge und Kooperation zwischen den Geschlechtern auf der Basis
einer kritischen Auseinandersetzung mit
Überlegenheitsansprüchen von Jungen und Männern;
Geschlechterbilder werden kritisch reflektiert; wirtschaftliche
Veränderungen sowie die damit verknüpfte Spaltung und
Hierarchisierung unser Gesellschaft wird reflektiert, ein
kritischer Umgang damit gefördert. Jungenarbeit fördert
schließlich durch intensive Begegnung persönliche
Orientierungen, ohne deren berufliche Verwertung in den Vordergrund
zu stellen, weil Jungenarbeiter Jungen persönlichen Zugang zu
Männern mit einem offenen Selbstverständnis
bieten.
Manchmal ergibt sich der Eindruck,
Jungenarbeit sei weit verbreitet, ja ein anerkannter normaler
Ansatz in der Jugendhilfe. Ansätze zur Jungenarbeit gibt es
inzwischen in fast allen Feldern der Jugendhilfe. Aufgrund der
Initiativen von einzelnen Jungenarbeitern und Organisationen sowie
den Anforderungen, die sich aus Gender-Mainstreaming-Prozessen
ergeben, wird Jungenarbeit zunehmend zu einem festen Bestandteil
von Jugendhilfe und Jugendarbeit.
Doch engagierte Jungenarbeiter erleben sich
immer noch oft als Einzelkämpfer, die sich Räume
innerhalb ihrer Organisationen schaffen müssen und dabei
häufig auf wenig Unterstützung aus der Organisation und
von männlichen und weiblichen Kollegen treffen. Jungenarbeiter
brauchen viel mehr spezifische Vernetzung, um die Qualität
ihrer Arbeit zu sichern. Zudem muss diese Qualität langfristig
dadurch gesichert werden, dass vermehrt Männer in den Berufen
Sozialarbeiter, Erzieher und Grundschullehrer ausgebildet werden,
die ihre eigenen und gesellschaftlichen Männlichkeiten
reflektieren.
Prof. Dr. phil. Stephan Höyng ist
Erziehungswissenschaftler, Professor für Gender in der
Sozialen Arbeit an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen
Berlin und wissenschaftlicher Leiter des europäischen
Forschungprojektes Work Changes Gender von Dissens e.V.
Berlin.
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