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Ralf Puchert
Ein bisschen Gewalt ist doch
selbstverständlich
Männer als Opfer - eine neue Studie und
ihre Ergebnisse
Seit einigen Wochen liegt mit der Pilotstudie "Gewalt gegen
Männer" die gesamte Bandbreite der personalen Gewalt vor.
Studien zu Männern als Täter und zu Frauen als Opfer
werden bereits seit längerem durchgeführt. Einen
Überblick über Männer als Opfer verschiedenster
Gewaltarten gab es bislang nicht.
Das Thema "Gewalt gegen Männer" ist ein weitge-hend
unbekanntes Gebiet. Sobald es einmal benannt ist, wuchern mangels
reflektierter Erkenntnisse die Fantasien. Relativ unumstritten ist,
dass Männer und männliche Jugendliche viel
körperliche Gewalt insbesondere im öffentlichen Raum und
insbesondere von Geschlechtsgenossen erfahren. Männliche
Jugendliche und junge Männer sind nicht nur
überzufällig häufig Täter, sondern auch Opfer.
Heftig umstritten ist im Gegensatz dazu zum Beispiel, inwieweit
Männer im häuslichen Bereich durch Frauen Gewalt
erleiden. Hier reichen die Standpunkte von "nicht vorstellbar" in
einer patriarchalen Gesellschaft, und demnach nicht existent, bis
hin zu Aussagen, dass Männer im häuslichen Bereich
ähnlich viel Gewalt erfahren wie Frauen. Noch weniger Wissen
existiert zum Bereich sexualisierter Gewalt gegen Männer.
Ziel der Pilotstudie war es, Forschungszugänge zu diesem
Thema zu eröffnen und erste Zahlen über die
Gewalterfahrungen von Männern im häuslichen wie im
außerhäuslichen Bereich durch die Befragung von in
Deutschland lebenden Männern zu gewinnen. Mit Hilfe
qualitativer Interviews wurde ein Instrument mit verschiedenen
Fragebogenteilen für eine repräsentative Studie im
Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend (BMFSFJ) zum Ausmaß und der Relevanz von Gewalt
gegen Männer entwickelt und in einer Stichprobe mit 266
zufällig ausgewählten Personen erprobt. In zweiter Linie
wurden die Hintergründe und Folgen dieser Gewalt erhoben.
Als ein übergreifendes Ergebnis lässt sich festhalten,
dass nicht alle Gewalthandlungen gleichermaßen wahrgenommen
und erzählt werden. Bestimmte Gewaltformen sind so normal im
Männerleben, dass sie nicht als solche wahrgenommen und
dadurch auch nur begrenzt erinnert werden. Widerfahrenes, das in
der männlichen Normalität untergeht, sind zum Beispiel
körperliche Gewaltakte in der Öffentlichkeit, die als
normale Auseinandersetzungen wahrgenommen werden. Andere
Gewaltformen sind so tabuisiert, dass sie entweder nicht erinnerbar
sind oder die betroffenen Männer nicht über sie
berichten. Beispiele für den tabuisierten, "unmännlichen"
Bereich finden sich insbesondere bei der sexualisierten Gewalt.
Handlungen aus diesen Bereichen sind in der Studie vermutlich
unterrepräsentiert. Leichter wahrnehmbar ist somit der
Bereich, der "über das normale Maß" hinausgeht, aber noch
nicht "unmännlich" ist.
In der Kindheit und Jugend ist das Risiko, Opfer von
Gewalthandlungen zu werden, für Männer sehr viel
größer als im Erwachsenenleben. Nur eine kleine
Minderheit der befragten Männer - jeder siebte - berichtet
über keine Gewalt in dieser Lebensphase. Über
körperliche und psychische Gewalt wird jeweils von der
Mehrheit berichtet. Schwere körperliche Gewalt in Kindheit und
Jugend scheint zuzunehmen. Obwohl die körperliche Gewalt in
dieser Altersgruppe insgesamt zunimmt, verringert sie sich in der
Erziehung. Körperliche Gewalt in der Erziehung wird immer noch
von vielen Männern nicht als Unterdrückung, sondern als
"normale" Erziehungsmethode angesehen.
Von sexualisierter Gewalt in der Kindheit und Ju-gend wird
deutlich weniger berichtet - sie wurde jedoch in allen
Schweregraden und Varianten benannt, die abgefragt wurden. Am
ehesten berichten Männer über ungewollte, unangenehme
Berührungen, die in Kindheit und Jugend zum Teil eindeutig
sexualisierten Charakter annehmen. Es wurde auch über
schwerste Vorfälle berichtet - bis hin zu jahrelangem
Missbrauch und Vergewaltigungen. Von eindeutiger sexualisierter
Gewalt in der Kindheit und Jugend berichtet etwa jeder zwölfte
Mann. Die gesamte Gewaltbelastung von Männern ist im
Erwachsenenalter deutlich geringer als in der Kindheit und Jugend,
mit Ausnahme der Wehr- und Zivildienstzeit. Die Gewaltbelastungen
im Erwachsenenleben sind ausdifferenziert nach Lebensbereichen
analysiert worden, da Gewalt nur aus dem jeweiligen Kontext heraus
zu verstehen und zu verändern ist.
Entgegen der Annahme, dass Männer insbesondere in der
Öffentlichkeit Gewalt trifft, sind die Lebensbereiche
Öffentlichkeit, Freizeit und Arbeitsleben etwa gleichgewichtig
vertreten, jedoch mit deutlich anderen Ausprägungen des
Erlebten. Körperliche Gewalt widerfährt insbesondere
jüngeren Männern überwiegend in Öffentlichkeit
und Freizeit. In der Arbeitswelt überraschte die hohe
Belastung durch psychische Gewalt, wovon ein Teil als
systematisches Mobbing zu betrachten ist. Innerhalb von
Lebensgemeinschaften gibt es keine eindeutige Gewichtung zwischen
den Gewaltformen. Entgegen dem geläufigen Vorurteil wurde
jedoch nicht nur durch eine kleine Minderheit über
körperliche Gewalt berichtet. Obwohl ein Teil der Männer
von Verletzungen aufgrund der Gewalthandlungen der Partnerin
berichtet, hat keiner diese Körperverletzung angezeigt.
Auffällig ist hier zudem der viel genannte Bereich der
sozialen Kontrolle durch die Partnerin.
Bei sexualisierter Gewalt im Erwachsenenleben scheinen die
größten Hindernisse vorzuliegen, über entsprechende
Geschehnisse zu berichten. Hier fehlen nicht nur eine entsprechende
Sprache und entsprechende Bilder, sondern auch der Mechanismus der
"Scham der Unmännlichkeit" wirkt als großes Hindernis.
Sexualisierte Gewalt gegen Männer existiert in einer
Bandbreite von sexueller Belästigung über Nötigung
bis hin zu Vergewaltigung. Dies kommt sowohl in den qualitativen
Interviews zum Ausdruck, in denen Männer zum Teil von massiven
sexualisierten Gewalterfahrungen, beispielsweise auch von
Vergewaltigungen, berichten als auch in Einzelfällen in der
quantitativen Befragung.
Eines der beeindruckendsten und in dieser Form auch
überraschendsten Ergebnisse war die Häufigkeit und
teilweise auch Intensität, mit der der Zweite Weltkrieg Spuren
bei den Befragten hinterlassen hat. Im Mittelpunkt der
Viktimisierung durch den Krieg als Soldat oder Zivilist steht die
Erinnerung an Extremsituationen, die weit über der
durchschnittlichen Erfahrung liegen. Es wurde deutlich, dass dies
ein Thema ist, das noch immer viele Männer beschäftigt
und Auswirkungen auf ihr Leben hatte.
Für die Wehr- und Zivildienstzeit wurden die gleichen
Gewaltakte abgefragt wie für die anderen Lebensphasen. In der
Befragung zeigte sich, dass viele dieser Gewaltakte mit einer
gewissen Selbstverständlichkeit zum Wehrdienst gehörten.
Daher gab es häufig eine Übereinkunft von Interviewer und
Befragten, nur über solche Erfahrungen zu reden, die
"über das normale Maß" hinausgehen. Trotzdem liegt die
erfasste Gewaltbelastung von Männern während der
Wehrdienstzeit besonders im Bereich der psychischen Gewalt weit
über den Belastungen im weiteren Erwachsenenleben. Der
Zivildienst scheint für die wehrpflichtigen Männer ein
geringeres Risiko darzustellen, Ziel gewalttätiger Handlungen
zu sein, als der Wehrdienst. Dieses Risiko ist aber immer noch weit
höher als das im zivilen Leben.
Die Größe der aufgezeigten Gewaltbelastung steht im
Widerspruch zum üblichen Fokus auf Männer als Täter.
Männer sind in einigen Bereichen in unerwartet hohem
Ausmaß Opfer von Gewalt und zwar auch im Bereich
Lebensgemeinschaften. Wenn dieses Ergebnis ernst genommen wird und
den Opfern geholfen werden soll, ist es notwendig, dass Netzwerke
und Orte geschaffen und gefördert werden, die sich des Themas
annehmen und es in die Öffentlichkeit tragen. Zudem ist die
Weiterentwicklung des psychosozialen Hilfesys-tems für
gewaltbetroffene Männer und Jungen erforderlich. Vor allem bei
den bisher tabuisierten Gewaltbereichen muss die Chance auf
Unterstützung bei der Beendigung, Aufarbeitung und
Bewältigung der gegen sie gerichteten Gewalt
vergrößert werden.
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