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Michael Meuser
Von der Entzauberung der Traditionen
Eine Frage der Realität: Theorie und
Wandel
Auch der Mann hat ein Geschlecht. Darauf weisen
die noch relativ jungen "Men's Studies" mit Nachdruck hin. Was ist
daran bemerkenswert? Bis in die jüngste Vergangenheit wurde
der Mann, anders als die Frau, nicht in seiner geschlechtlichen
Besonderheit wahrgenommen. "Die männlichen
Wesensäußerungen" werden, schrieb der Philosoph und
Soziologe Simmel vor etwa 100 Jahren, "in die Sphäre einer
überspezifischen, neutralen Sachlichkeit und Gültigkeit"
erhoben. Dies verstellte und verstellt zum Teil immer noch
systematisch den Blick auf die geschlechtliche Dimension.
Diese Einsicht ist lange Zeit vergessen
worden. Erst in jüngerer Zeit findet eine "Entzauberung" der
Männer statt. Entscheidenden Anteil daran hat die Kritik
männlicher Herrschaft durch die Frauenbewegung. Zwar
dominieren Männer nach wie vor die Zentralen
gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Macht, doch
setzt sich die männliche Herrschaft "nicht mehr mit der
Evidenz des Selbstverständlichen" durch, wie der
französische Soziologe Pierre Bourdieu konstatiert. Sie
unterliegt einem stetig stärker werdenden
Rechtfertigungsdruck.
Traditionelle Männerbilder verlieren an
Orientierungskraft. Hierfür sind vor allem folgende
Entwicklungen verantwortlich: 1. die durch die Frauenbewegung
betriebene Kritik männlicher Herrschaft, 2. der Strukturwandel
der Familie, in dessen Verlauf das Modell des Mannes als
Ernährer der Familie zunehmend obsolet wird, 3. die
größeren Erfolgen von Mädchen und Frauen im
Bildungssystem und 4. der Wandel der Strukturen der Erwerbsarbeit
im Zuge des Übergangs von einer Industrie- zu einer
Informationsgesellschaft. Diese Prozesse haben teileweise
gravierende Veränderungen der traditionellen Männerrolle
zur Folge, ganz unabhängig davon, ob die Männer dies
wollen oder nicht. Für die allermeisten Männer stellen
sich diese Veränderungen als eine "erlittene Emanzipation"
(Ulrich Beck) dar.
Einstellungswandel
Die Kritik der Frauenbewegung hat zumindest
eines bewirkt: einen Einstellungswandel unter Männern.
Vergleicht man aktuelle Studien mit Befragungen, die in den 1970er-
und 1980er-Jahren durchgeführt wurden, dann findet man heute
eine wesentlich größere Orientierung an egalitären
Werten und eine höhere Gewichtung des Engagements in der
Familie. Es ist bekannt, dass mit diesem Einstellungswandel noch
keine gleichermaßen veränderte Praxis korrespondiert. So
machen nur rund zwei Prozent der berufstätigen Väter von
dem Recht auf Elternzeit Gebrauch. Skeptisch betrachtet könnte
man sagen: Es hat sich eine Rhetorik der Gleichheit durchgesetzt,
nicht aber eine egalitäre Praxis.
Wir können eine zunehmende
Pluralisierung von Familienformen beobachten. Die traditionelle
bürgerliche Kleinfamilie, in der dem Mann die Rolle des
Familienernährers zukommt und die Frau für die Haus- und
Familienarbeit zuständig ist, ist weder im quantitativen Sinne
noch als Leitbild weiterhin die Norm. Andere Ehe- und
Familienformen haben sich etabliert und werden in wachsendem
Maße als Alternativen anerkannt. Mit der Pluralisierung der
Familienformen schwindet die Basis männlicher Dominanz in der
Familie. Unter jungen Vätern gewinnt ein neues
Verständnis einer aktiven Vaterschaft an Boden. Allein in der
Ernährerfunktion in der Familie präsent zu sein
genügt ihnen nicht mehr. Allerdings muss man genau hinschauen.
Das wachsende Bedürfnis, an der Erziehung der Kinder aktiv
teilzuhaben, erstreckt sich noch kaum auf die mühsamen und
mitunter lästigen Routinen der alltäglichen Versorgung
(Hausaufgaben, Pflege, Waschen). Im Vordergrund stehen eher
kreative und angenehme Tätigkeiten, vor allem das Spielen mit
den Kindern. Gleichwohl, das sich verändernde Verständnis
von Vaterschaft markiert einen Bereich, in dem am deutlichsten ein
Wandel von Männlichkeit sichtbar wird.
Gravierende Veränderungen sind im
Bildungsbereich zu verzeichnen. Die besseren schulischen Leistungen
der Mädchen sind in jüngster Zeit ein Dauer-thema der
Presseberichterstattung. Jungen geraten in diesem Bereich ins
Hintertreffen. Das erzeugt bei vielen Verunsicherungen und
Ressentiments. Auch wenn die männliche Herrschaft fraglich
geworden ist, bestimmt das Leitbild einer hegemonialen
Männlichkeit weiterhin die männliche
Geschlechtsidentität: Schlechter als Mädchen
abzuschneiden wird vor diesem Hintergrund als Entwertung der
eigenen Männlichkeit erfahren.
Vermutlich werden die jungen Männer, die
heute mit schlechteren Noten die Schule verlassen, in zehn bis 15
Jahren in ihrer beruflichen Karriere weiter vorangekommen sein als
ihre Mitschülerinnen. Aber das kann sich ändern, sollte
sich der Trend der letzten Jahre fortsetzen; und dann wäre
eine zentrale Säule männlicher Herrschaft - Beruf und
Karriere - ernsthaft einsturzgefährdet.
Der Wandel der Strukturen der Erwerbsarbeit
im Zuge des Übergangs von einer Industrie- zu einer
Informationsgesellschaft bringt gravierende Veränderungen mit
sich. Eine diskontinuierliche Erwerbsbiografie, also ein
häufiger Wechsel zwischen Phasen der Vollbeschäftigung,
Arbeitslosigkeit, Teilzeitbeschäftigung und Minijobs, wird
für immer mehr Beschäftigte zu einer Basiserfahrung. Ein
großer Teil typischer Frauenarbeitsplätze war immer schon
mehr oder weniger davon gekennzeichnet. Neu ist, dass dies eine
geschlechterübergreifende Normalität zu werden beginnt,
die in wachsendem Maße auch die Erwerbslage von Männern
kennzeichnet. Um die Bedeutung dessen zu ermessen, muss man
berücksichtigen, in welch hohem Maße männliche
Hegemonie und männliche Geschlechtsidentität auf der
festen Verankerung in einem Beruf beruhen. Mit dem skizzierten
Strukturwandel der Erwerbsarbeit ist die zentrale Basis
traditioneller Männlichkeit und männlicher Dominanz
gefährdet. Für eine wachsende Zahl von verheirateten
Männern ist damit verbunden, dass sie zumindest temporär
von den ökonomischen Versorgungsleistungen ihrer Frauen
abhängig werden.
Obsolete Lebensentwürfe
Fazit: Die Lebensbedingungen von Männern
ändern sich, zum Teil durchaus dramatisch. Dadurch werden
traditionelle männliche Lebensentwürfe in wachsendem
Maße obsolet. Das erzeugt Verunsicherungen. Diese
äußern sich vielfach in einer Rück-Orientierung am
status quo ante, aber auch in Suchbewegungen auf neuem Terrain. Die
gewiss noch zaghaften Schritte in Richtung eines aktiven
Verständnisses von Vaterschaft zählen hierzu. Bislang
erreichen die Suchbewegungen nur selten ihr Ziel. Gewiss gibt es
Bemühungen, neue Formen von Männlichkeit zu
entwickeln.
Gleichwohl sind die Konturen eines
alternativen, nicht an Dominanz orientierten Leitbildes von
Männlichkeit noch kaum zu erkennen - erst recht nicht eines
Bildes, dem gesellschaftliche Anerkennung zuteil werden würde.
Solange diese Anerkennung fehlt, dürfte es den meisten
Männern nur schwer zu vermitteln sein, dass es sich lohnt, in
die Entwicklung und Aneignung eines Männlichkeitsbildes zu
investieren, dessen "Rendite" in Gestalt von sozialer Anerkennung
und Erfolg allerdings äußerst schwer zu kalkulieren
ist.
Dr. Michael Meuser ist Privatdozent für
Soziologie an der Universität Bremen und wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Essener Kolleg für Geschlechterforschung der
Universität Duisburg Essen.
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