Ralf Hanselle
Ende einer Ideologie
Die Popkultur war immer jung: Und
nun?
"Life is very long when you're lonely." So
lautet eine der berühmtesten Liedzeilen der Punkrock-Gruppe
The Smiths. Und einsam sind sie alle. All die zumindest, die es mit
der Adoleszenz ernst meinen. Die Popkultur der letzten Jahrzehnte
mag mit vielen Dingen gebrochen haben: Dem spießigen
Kleinbürgermief, den guten Umgangsformen oder den klassischen
Beziehungsbildern. Eines aber hat sie dabei stets unangetastet
gelassen: die Jugend.
Jugendlichkeit nämlich ist ihre wahre
Ideologie. Eine Adoleszenzverschiebung, die seit Jahren Hybris und
Weltschmerzpathos kultiviert. Der Berufsjugendliche ist ihr
höchstes Ziel. Authentisch erscheint nur derjenige, der
jugendliche Unsicherheit und permanenten Zweifel lebt. Ein Bild vom
Altern hat der Rock'n Roll bis dato nicht. Verschwende deine
Jugend, denn all die Guten sterben früh!
Nicht jedem indes gelingt, was Jim Morrison
als "Durchbruch auf die andere Seite" besungen hat. John Lennon,
Brian Jones oder Curt Cobain waren die hochmythologisierten
Ausnahmeerscheinungen einer Kultur des "Viva la Muerte". Für
den Rest wird Reifeprüfung zur Endlosaufgabe. Ein Gestus, der
romantisierte Todessehnsucht und radikale Posen liebt. Je
erbarmungsloser diese halbwüchsige
Zugehörigkeitslosigkeit gelebt wird, um so überzeugender
die Botschaft: Man meint es noch immer ernst mit der Welt. Für
die Baby Boomer, die als erste Generation von dieser Denkungsart
geprägt worden sind, mag die biologische Uhr längst
ticken, der Eintritt ins "wahre" Leben aber wird weiterhin
aufgeschoben.
Der philosophische Zeitgeist ist dieser
popkulturellen Attitüde dabei schon früh zur Hilfe
geeilt. Die Postmoderne, die, wie Jean-Francois Lyotard es
formulierte, alles Überkommene zu hinterfragen hatte und statt
auf Permanenz und Tradition lieber auf Differenz und Augenblick
setzte, bereitete dem aufkommenden Jugendwahn den geistigen
Nährboden. "Postmodernismus bedeutet nicht das Ende des
Modernismus, sondern dessen Geburt. Dessen permanente Geburt." Und
vor lauter Zeugen und Gebären fiel Altern und Reifen
irgendwann hinten runter.
Schon die Sprache der Postmodernen war
jugendlich bis infantil. Ständig wurde dort "gespielt".
Geschichte, Identität, Erinnerung - alles war im steten Fluss.
Alles konnte unentwegt umfiguriert werden. Eine bessere Ideologie
konnte dem Berufsjugendlichen nicht an die Hand gegeben werden.
Denn wo auch der letzte Kanon verzockt worden war, blieb dem Homo
Ludens nichts, als geschichtsentbunden und wie ein unreifer Teenie
seine eigenen Erfahrungen zu sammeln.
Mit marketingerfahrener Raffinesse gab er
dieser Lebensform treffsicher einen neuen Namen: die
"Erlebnisgesellschaft". Dies meinte nichts anderes als den Wandel
vom "weltbezogenen Subjekt zur subjektbezogenen Welt". Das
Copyright an dieser Definition hält der Soziologe Gerhard
Schulze. Und der hat damit erreicht, was mit keinem Jungbrunnen
zuvor gelungen war. Die jugendliche Hybris, die sich selbst
unentwegt im Zentrum des Universums weiß, ist endgültig
zur bestimmenden Weltsicht geworden.
Doch nun zeigen sich auch in der
"subjektbezogenen Welt" die ersten Zipperlein, und die, die eben
noch jung waren, schauen sich selbst verdattert an. Die frühen
Popveteranen erreichen den wohlverdiente nAltenteil. Mit Bob Dylan
und Mick Jagger sind sie in die Jahre gekommen. Die, die geboren
wurden, um wild zu sein, erkennen mit den aufkommenden Wehwechen,
der ersten Altersdemenz und den aufscheinenden Gebrechlichkeiten
plötzlich die Schwere der Welt. Da wäre es an der Zeit,
einmal fundamental umzudenken.
Denn so wie die Vorreiter der Popkultur
Jugendwahn und Dauer-Infantilität geprägt haben, so
werden sie auch die Speerspitze jenes Phänomens bilden, das
sich unter dem Begriff "alternde Gesellschaft" allmählich am
Horizont abzeichnet. Die Avantgarde des Rock'n Roll wird zum
Wegweiser der Rentnerschwemme.
Nun ist Deutschland für seine
Untergangsfantasien bekannt und seine "Spenglereien" sind
berüchtigt. Zieht man indes das Leidenspathos ab, so bleibt
noch immer eine Gesellschaft im Umbruch. Diese muss nicht nur nach
neuen Finanzierungsmöglichkeiten für die sich
verändernden sozialen Systeme suchen. Ihr ermangelt es
vielmehr an Rollen- und Leitbildern für die neuen
Alten.
Der Berufsjugendliche zumindest tut sich noch
immer schwer damit, den Prozess des eigenen Reifens anzunehmen.
Das, was Zeitschriften und Magazine an neuen Rollenbildern für
die kommenden Pensionäre anzubieten haben, liest sich
letztlich wie eine Fortschreibung der Jugend mit anderen Mitteln.
Vom Focus bis zum Stern wimmelt es vor sogenannten Best Agern. In
PS-starken Silberpfeilen düsen diese durch die Lande oder
brausen als Silver Surfer über den Datenhighway.
Stolz wird darüber berichtet, dass der
Zwei-Personen-Rentnerhaushalt mit durchschnittlich 1.700 Euro gut
200 Euro über denen einer Familie mit Kindern liegt und dass
die Über-50-Jährigen über eine Kaufkraft von 90
Milliarden Euro jährlich verfügen. Fast scheint es, als
läge die wahre Jugend im reifen Alter. Ökonomisch
omnipotent gönnt man sich endlich die Autos mit allen "Extras"
(Silver Shopper), und wenn die Leiblichkeit mal schwach macht,
dopen Hormonpräparate den greisen Körper zu neuer
Lebenslust. Diese neuen Alten haben einfach alles - alles,
außer Alter.
Das nämlich ist trotz allem Gerede
über die alternde Gesellschaft noch immer nicht präsent.
Längst mag es Age Explorers und Senior Scouts geben. An Omas
Guter Stube aber wird mit solchen Bildern noch immer
vorbeigeforscht. Alles, was nicht alt, lebensfroh und konsumstark
ist, wird unter die Metaphorik einer Naturkatastrophe subsumiert.
Da naht allerorten die "Rentnerschwemme", und das soziale
Gefüge zerbricht an einer "Altenlast". Vor Überalterung
wird "gewarnt", während dennoch die "Zahl der Alten dramatisch
ansteigt".
Der Berufsjugendliche mag sich drehen und
wenden, wie er will. Mit Anti-Aging-Creme scheint es nicht mehr
getan. Denn kaum, dass die Haut sich wieder straffer anfühlt,
kommt der Schrecken des Welkens mit noch dramatischeren Bildern
durch die Hintertür wieder herein.
Lösung kann letztlich nur eines
schaffen: Das Bild des Alterns erneut in die Gesellschaft zu
integrieren. Erst wenn die Adoleszenzverschiebung der Popkultur als
eine Schimäre entlarvt wird, kann auch eine befriedigende
Altersidentität geschaffen werden. Noch mögen uns die
Hochglanzbilder in den Medien die "jungen Alten" vorgaukeln. Die
"alten Alten" aber fühlen sich anders an.
Zwar mögen auch die noch finanziell
besser gestellt sein als der Haushalt einer jungen Familie.
Wirklich bereichern aber werden sie mit anderen Dingen: Mit
Kompetenz, Reife und Erinnerung etwa. Denn all dies sind Werte, die
Pop und Postmoderne bis dato außen vor gelassen haben. In
einer Wissensgesellschaft aber werden sie zunehmend unermesslich
sein. Ihre Wiederentdeckung kann somit nicht nur für das
eigene Reifen eine Bereicherung sein. Auch für die
Gesellschaft und ihr soziales Gedächtnis ist auf Dauer nichts
unproduktiver, als sich die gelebten Jahre einfach "stehlen" zu
lassen. Wer also schon seine Jugend verschwendet hat, der sollte
wenigstens im Alter etwas auf sich Acht geben.
Ralf Hanselle ist freier Journalist, schreibt
für die "Financial Times Deutschland" und lebt in
Berlin.
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